Verfolgt
mussten.« Johnny sieht mich um Verständnis bittend an. »Das Gefängnis war ein düsterer, deprimierender Kasten und manche von den weiblichen Häftlingen waren ganz schöne Brocken.«
»Mein Beileid«, sage ich.
»Da gab’s eine Gefangene, eine hübsche Frau, aber eine notorische Unruhestifterin. ›Die Verrückte‹ wurde sie von allen genannt. In der Woche vor dem Aufstand hat sie die Hälfte aller anderen Frauen zu einem Hungerstreik überredet. Außerdem hat sie nie gemacht, was man ihr gesagt hat. Viele von uns fanden, man müsste ihr mal eine Lektion erteilen.«
Mich überläuft es kalt.
»Das ist nichts für deine Ohren.« Johnny beugt sich vor und hält sich wieder den Schädel. »Dafür bist du noch zu jung.«
»Doch!« Ich lege den vierten Gang ein und wir brausen über die leere Straße.
»Die Verrückte hatte mit irgendwem Streit angefangen oder so, jedenfalls brüllte sie rum und steckte die anderen Frauen an. Sie kamen angerannt und wollten ihr helfen und da verloren die Aufseher die Nerven. Irgendein |261| Schlaukopf kam auf die Idee, den Frauen die Kinder wegzunehmen, damit sie sich wieder beruhigen. Der Schuss ging voll nach hinten los. Die Frauen zeterten und schrien und fingen an, mit Sachen zu schmeißen. Dann brach Feuer aus. Es waren nicht genug Aufseher da. Wir wussten nicht, was wir machen sollten, um die Lage wieder in den Griff zu kriegen. Es war das reinste Irrenhaus. Das Küchenpersonal hatte dermaßen Schiss, dass sich die Leute in der Küche verbarrikadierten, und die Gefängnisleitung schloss sich in ihren Büros ein.« Jetzt, wo sich Johnny dazu durchgerungen hat, den Mund aufzumachen, sprudelt es nur so aus ihm heraus. Er kann gar nicht mehr aufhören. »Ein paar Kumpel von uns hatten sich aufs Dach geflüchtet. Wir wurden immer weniger. Wir hatten alle Schiss. Nur noch ein paar Kollegen waren vor Ort und versuchten, wieder Ruhe herzustellen. Dabei ging es ein bisschen rau zu, verstehst du?«
»Nein.«
Johnny seufzt tief. »Die Verrückte hatte in ihrer Heimat schlechte Erfahrungen mit Feuer gemacht. Als sie den Rauch gerochen hat, ist sie durchgedreht. Sie hat sich an den Aufsehern vorbeigedrängelt und ist aus dem Gebäude gerannt. Ihren kleinen Sohn hat sie mitgenommen. Keine Ahnung, wie es ihr gelungen ist, über den Zaun zu klettern. Ein paar Kollegen sind noch hinterher, aber sie war weg.«
Johnny lässt sich zurücksinken und macht die Augen zu.
|262| »Und dann?«, hake ich in sanftem Ton nach.
»Lassen wir das. Tut mir leid, Lexi. Ich bin blau. Ich wollte gar nicht drüber sprechen. Aber mit dir kann man einfach so gut reden. Und es war nicht leicht, es die ganzen Jahre für mich zu behalten. Es war nicht in Ordnung, was damals passiert ist.«
»Was ist denn nun mit der Frau und ihrem Sohn passiert?« Ich kann es mir schon denken. Johnny mustert mich forschend.
»Es ist besser, die Sache auf sich beruhen zu lassen, Lexi, glaub mir.«
»Erzählen Sie’s mir. Reden Sie es sich endlich von der Seele.«
»Ich kann nicht. Bitte, Lexi …«
»Es war Owen, stimmt’s? Er ist damals der Frau und dem Jungen in den Wald nachgelaufen. Aber er hat die beiden nicht wieder zurückgebracht. Sie sind ihm entwischt, jedenfalls der Junge. Und heute Nacht will Owen ihn suchen.
Aber was wurde aus seiner Mutter?
«
»Die Verrückte konnte richtig gewalttätig werden«, erwidert Johnny. »Sie war nicht ganz klar im Kopf, das haben alle gesagt.«
»Und wo ist sie jetzt? Und was will Owen von ihrem Sohn?«
»Fahr einfach«, sagt Johnny.
|263| IM SCHEIN DER TASCHENLAMPE
Auf der Fahrt durch die dunklen Straßen überlege ich fieberhaft. Ich glaube, Owen hat damals etwas ganz Schlimmes getan. Ich glaube, er hat jemanden umgebracht. Mir wird heiß und kalt bei dem Gedanken. Ich glaube, was er gemacht hat, ist bis jetzt nicht rausgekommen, aber es gab einen Zeugen.
Kos.
Der kleine Junge damals war Kos. Irgendwie ist es ihm gelungen unterzutauchen und Owen sucht ihn heute noch. Ob Kos weiß, dass die Männer heute Nacht hinter ihm her sind? Wenn wir sie einholen … ja, was dann? Ich muss mir etwas einfallen lassen, bevor wir dort ankommen.
»Hör mal, Lexi, wenn wir da sind, bleibst du aber im Auto«, sagt Johnny. »Du kannst nicht mitkommen, das ist zu gefährlich. Du kennst meine Brüder nicht …«
»Schon klar«, sage ich.
Die Abzweigung zur Beacon-Klinik will einfach nicht kommen. Als wir endlich in die Zufahrt einbiegen, spähe ich in die Dunkelheit, erkenne
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