Verführer der Nacht
aber sie kam nicht dahinter, was es war. Sie kauerte sich hin und strich mit ihrer Hand über die trockene Erde, als könnte sie ihr mehr verraten. Dann holte sie mehrmals tief Luft. Hysterie konnte sie jetzt nicht brauchen. Sie musste daran glauben, dass Ginny irgendwo fröhlich spielte, ohne etwas von den Ängsten zu ahnen, die ihre Familie um sie ausstand. Colby schritt vorsichtig die Stelle ab und runzelte die Stirn, als sie in einem kleinen Busch einen abgebrochenen Zweig entdeckte. Behutsam berührte sie ihn mit einer Fingerspitze. Ginnys Höhe. Sie hätte ihn im Vorbeilaufen streifen können. Aber wo waren ihre Fußspuren? Ein zertretenes Blatt, das ein paar Schritte weiter lag, schien die Vermutung zu bestätigen, dass Ginny hier entlanggekommen war. Colby schüttelte den Kopf. Das war verrückt. Man hätte mehr sehen müssen. Wo war die Spur? Sie war viel zu schwach, als wäre Ginny geflogen und hätte den Boden nur an einigen Stellen leicht berührt, wie ein Phantom. Sie erschauerte und bemühte sich, ihre Fantasie und das Grauen, das sie jeden Moment zu überwältigen drohte, im Zaum zu halten.
Ich bin unterwegs. Ich verstehe nicht, warum deine Angst größer wird, wenn du siehst, dass sie diesen Weg genommen hat. Rafael war ruhig und unerschütterlich. Colby klammerte sich an seine Stärke wie an einen Rettungsanker.
Spuren sehen anders aus, Rafael. Ich erkenne ihren Stiefelabdruck im Sand und weiter vorn einen umgestoßenen Stein. Es müsste mehr Anzeichen geben, wenn sie hier vorbeigekommen wäre. Sie versuchte, ihm zu erklären, was sie meinte, indem sie ihm das, was sie sah, übermittelte.
Wo sind Juan und Julio? Ihr solltet alle bewaffnet sein und zusammenbleiben. Seine Stimme hatte sich nicht verändert, aber sie spürte seine Unruhe.
Sie sind unterwegs. Colby hoffte, dass das stimmte.
»Colby!« Es war ein flehentlicher Aufschrei, wie von einem kleinen Kind, das Hilfe braucht. Diese Stimme hatte sie von Paul nicht mehr gehört, seit er sechs Jahre alt gewesen war. Sie sprang auf und fuhr herum. Paul kam auf sie zugetaumelt, sein Gesicht eine bleiche, angstverzerrte Maske. Er fiel auf ein Knie und vergrub sein Gesicht in den Händen.
Colby war wie betäubt, als sie zu ihm rannte, sich neben ihn warf und seinen schmalen, bebenden Körper tröstend an sich zog. »Erzähl mir, was los ist, Paul.« Obwohl ihre Stimme unendlich sanft war, strahlte sie ungeheure Autorität aus.
Sie fühlte, wie Rafael still wurde und sie im Geist in seine Arme nahm, um ihr Kraft zu geben.
»Die Spuren ... seine und ihre. Ich bin ihnen gefolgt. Da ist ein ... ein ... « Er brach ab und vergrub schluchzend sein Gesicht in den Händen.
Colby packte ihn an den Schultern und schüttelte ihn grob. »Sag es mir!« Angst schnürte ihr die Kehle zusammen, so sehr, dass sie kaum Luft bekam. »Paul! Um Himmels willen, hast du Ginny gefunden?«
Der Junge hob den Kopf und starrte sie aus gehetzten Augen an. Rafael hielt den Atem an.
»Paul.« Colby berührte die Tränen auf seinem Gesicht.
»Ein Grab!«, schrie er. »Ich habe ein Grab gefunden!«
Plötzlich herrschte Schweigen. Colby war eine Minute von dem Schock wie gelähmt. Ihr Herzschlag dröhnte in ihren Ohren, und in ihrer Kehle formte sich ein stummer Schrei. »Das glaube ich nicht!« Sie schubste Paul weg und sprang auf.
Warte auf mich! Trotz seiner Verletzungen verdoppelte Rafael seine Geschwindigkeit. Colby war nahezu hysterisch. Er hätte das Blut der Kinder nehmen sollen, um jederzeit zu wissen, wo sie sich befanden. Der Gedanke an das kleine Mädchen, das verletzt, vielleicht sogar tot war, zerriss ihm das Herz.
Colby rannte in die Richtung, aus der Paul gekommen war. Sie sah die großen Abdrücke von Stiefeln, wo ein schwerer Mann Ginny überfallen hatte, sah die abgebrochenen Sträucher, wo sie sich gewehrt hatte, die tieferen Abdrücke der Männerstiefel, als er das Mädchen weggeschleppt hatte. Die Spuren führten in einen Canyon, aus dem es keinen Ausgang gab. Auf der linken Seite erhob sich zwischen zwei großen Felsblöcken ein kleiner Hügel frisch aufgeworfener Erde. Loses Erdreich lag ringsum verstreut, und oben auf den Hügel waren sorgfältig kleinere Felsbrocken gelegt worden, um zu verhindern, dass Tiere an der Stelle buddelten.
Rafael. Rafael! O Gott, ich glaube, sie ist tot. Mit einem herzzerreißenden Schrei rannte Colby zu dem Erdhaufen, schleuderte rasend vor Wut die Steine weg und schaufelte mit bloßen Händen die Erde zur Seite.
Tu
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