Verführer der Nacht
gegenübertreten. Nicht für Colby. Und auch nicht für Ginny. Für nichts auf der Welt.
»Tu, was ich sage!« Sie jagte über die Wiese, um sich weiter umzuschauen.
Meu amor, warum hast du solche Angst? Dein Entsetzen reißt mich aus tiefstem Schlaf. Rafaels Stimme war wie eine zärtliche Liebkosung. Sie zerbrach beinahe daran, als sie seine geistige Nähe spürte. Colby konnte tatsächlich fühlen, wie seine Hand über ihr Gesicht strich, und merkte erst jetzt, dass sie weinte.
Es ist Ginny. Der Hund ist betäubt worden, und sie ist allein spazieren gegangen. Es hätte doch keine Gefahr bestehen dürfen. Der Vampir liegt in der Erde, oder? Sie brauchte Trost und Zuversicht.
Er ruht in der Erde, aber er kann menschliche Marionetten benutzen. Wo ist Paul? Rafael stellte die Frage vorsichtig, weil er wusste, wie sie reagieren würde.
Es war nicht Paul. Wenn er es wäre, würde ich mir nicht solche Sorgen machen – ich weiß, dass er sich dagegen wehren würde, Ginny etwas anzutun. Aber ich kann fühlen, dass etwas Schlimmes passiert ist, Rafael.
Ich komme zu dir.
Nein! Colbys Blick war auf den Boden geheftet, um Spuren zu entdecken. Du bist schwer verwundet, und ich kann mich im Moment nicht um noch jemanden kümmern. Bleib, wo du bist, und überlass es mir, sie zu finden.
Ich komme zu dir und der Kleinen. Sein Ton war unnachgiebig.
Paul schaute zuerst bei der Quelle nach. Falls Ginny so weit gegangen war, hatte sie bestimmt Durst bekommen. Der erste Aufenthalt bei einem Spaziergang war immer bei der Quelle, um dort einen Schluck Wasser zu trinken. Auf dem feuchten Untergrund waren keine Abdrücke von Ginnys kleinen Füßen zu sehen, aber Paul blieb beinahe das Herz stehen, als er die klaren Umrisse eines Männerstiefels erkannte. Sie waren gut zwei Nummern größer als seine eigene Schuhgröße, deshalb wusste Paul, dass der Abdruck weder von Colby noch von ihm stammen konnte. Einer seiner Onkel könnte ihn hinterlassen haben, doch beide trugen ganz bestimmte Stiefel mit einem unverwechselbaren Profil, und keiner von ihnen hatte so große Füße. Beunruhigt suchte er den Boden nach Hinweisen ab, die ihm vielleicht verraten würden, in welche Richtung der Mann gegangen sein könnte.
Nach einigen Minuten entdeckte er eine schwache Spur. Es war nicht viel – ein paar leichte Abdrücke im Boden, ein abgerissenes Blatt, ein zerbrochener Zweig und ein Zigarettenstummel. Plötzlich stieß er einen leisen Schrei aus und fiel neben den Spuren auf die Knie. Wie von selbst fuhren seine Hände über den kleinen Stiefelabdruck. Es war eindeutig Ginnys Stiefel; er würde ihn überall wiedererkennen. Der größere Stiefel hatte ihren überdeckt. Einen Moment lang war Paul unschlüssig. Er hätte gern nach Colby gerufen, doch er befürchtete, derjenige, der Ginny mitgenommen hatte, könnte ihn hören und seiner kleinen Schwester etwas antun. Die Spuren waren noch frisch. Er begann ihnen zu folgen, indem er so gut wie möglich Deckung bezog und sorgfältig darauf achtete, nicht die Erde aufzuwirbeln und Staubwolken aufsteigen zu lassen. Paul hoffte, dass seine Onkel oder Colby ihm bald folgen würden.
Rafael brach aus der Erde. Er stieß einen gutturalen Schrei aus, als sich die Sonnenstrahlen wie Messer in seine Haut bohrten, und wechselte sofort seine Gestalt, um seine empfindlichen Augen und seinen Körper vor dem gleißenden Licht zu schützen. Das Verbiegen von Knochen und Muskeln öffnete seine Wunden wieder, sodass Blutstropfen durch die Luft sprühten und auf den Boden regneten. Rafael wählte die Form von feuchtem Dunst, damit er nicht unablässig seine Augen vor dem Sonnenlicht abschirmen musste. Diese äußere Form in seinem geschwächten Zustand aufrechtzuerhalten war schwierig und ließ ihm kaum genug Energie, um eine Wolkenbank als Deckung entstehen zu lassen. Nicolas hatte tief in den Bergen, weit entfernt von der Ranch, gehaltvolle Erde gefunden und Rafael in der Hoffnung, dass die reichlich vorhandenen Mineralstoffe den Heilungsprozess beschleunigen würden, dorthingebracht. Das Erdreich eignete sich perfekt zum Heilen, aber es bedeutete, dass Rafael jetzt eine weite Strecke zurücklegen musste. Indem er seinen eisernen Willen einsetzte, verdrängte er die bohrenden Schmerzen und flog zu Colby, eine Spur aus feinem, rotem Dunst hinter sich lassend.
Colby stieg ab, ließ die Zügel hängen, sodass sich die Stute nicht weit entfernen konnte, und betrachtete verwirrt den Boden. Irgendetwas stimmte nicht,
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