Verführer der Nacht
das bitte nicht. Ich bin schon ganz nahe, meu amor. Ich übernehme das.
Sie hörte nicht auf, konnte nicht aufhören, bis ihre Finger auf einen Widerstand stießen. Colby hörte auf zu atmen und zu denken. In ihrem Inneren war eine einzige große Leere. Erst jetzt fielen ihr die Tränen auf ihrem Gesicht auf, der Schmutz auf ihrer Kleidung und der Stoff in ihrer Hand. Es war Sackleinen. Zögernd schob sie die restliche Erde beiseite und legte einen Jutesack frei.
Ich kann nicht atmen, Rafael. Ich bekomme keine Luft mehr. Gleich würde sie sich übergeben.
»Nein, wirst du nicht.« Sie hatte Rafael nicht einmal kommen gehört. Er stand einfach neben ihr, eine Hand auf ihrer Schulter, sein Atem warm und tröstlich in ihrem Nacken. »Schau dir diesen Sack einmal genau an, Colby.«
Sie konnte durch ihre Tränen hindurch kaum etwas erkennen. Dann schluchzte sie laut und hemmungslos vor Dankbarkeit und Glück. »Es ist ein Hundert-Pfund-Sack Hafer. Nicht Ginny. Hafer.« Sie warf sich in Rafaels Arme, vergrub ihr Gesicht an seiner Brust und weinte vor Erleichterung.
»Sie lebt«, sagte Rafael. »Ich habe die Umgebung überprüft. Etwas Böses ist hier draußen, aber Ginny lebt. Ich fühle ihre Gegenwart.«
»Es war nicht Paul«, flüsterte sie und klammerte sich an sein Hemd.
»Nein, er war es nicht, querida«, bestätigte er und half ihr behutsam auf die Beine.
Colby drehte sich um und schaute zu ihrem Bruder. Er stand ein paar Meter entfernt, lehnte sich an einen Baum und hatte das Gesicht in seiner Armbeuge vergraben. »Es ist nicht Ginny«, rief sie ihm zu. »Sie ist es nicht, Paul. Es war eine Finte, eine hundsgemeine Finte.«
Paul hob den Kopf und starrte sie an, als hätte sie den Verstand verloren, bevor er sich auf unsicheren Beinen in Bewegung setzte und über den unebenen Grund lief, um sich mit eigenen Augen zu überzeugen. Hysterisch lachend fielen sie einander in die Arme, so erleichtert, dass sie ein paar Augenblicke wirklich ein bisschen verrückt waren.
Colby beruhigte sich zuerst und streckte ernüchtert einen Arm nach Rafael aus. Erst jetzt schaute sie ihn richtig an. Sein Gesicht war mit Wunden von den scharfen Klauen der mutierten Fledermäusen übersät. Sein Hemd hing in schmutzigen Fetzen an ihm herab, und die Haut auf seiner Brust war aufgerissen und entzündet. Blut tränkte sein Hemd und sickerte aus seinen Wunden. Seine Augen waren sogar im frühen Morgenlicht rot und verschwollen und ein beredtes Zeugnis dafür, wie viel er an Kraft eingebüßt hatte.
Er stand hoch aufgerichtet vor ihr und sah dabei so elend aus, dass ihr erneut Tränen in die Augen stiegen. »Du hättest nicht kommen sollen, Rafael.« Er war verwundet und am Ende seiner Kräfte, und trotzdem war er ihr zu Hilfe geeilt. Colby wünschte, sie könnte ihn in ihre Arme nehmen und festhalten und seine schlimmsten Qualen lindern. Sie biss sich auf die Lippe. »Du trägst nicht einmal eine Sonnenbrille.«
»Und wo ist deine?« Er nahm ihre Hand und strich mit seinem Daumen über ihre Haut, als wollte er sich vergewissern, ob Blasen oder Brandwunden da waren.
»Weiß ich nicht. Ich habe sie vergessen. Ich muss immer noch Ginny finden. Ich hätte es wissen müssen. Es war da, direkt vor meinen Augen, aber ich war einfach außer mir vor Angst. Darauf haben sie sich verlassen. Dass ich in Panik geraten und auf eine falsche Fährte hereinfallen würde.« Sanft berührte sie sein Gesicht. »Du musst zurückgehen, Rafael. Juan und Julio müssen gleich hier sein. Ich bin jetzt nicht allein.« Sie konnte nicht anders, sie musste einfach ihre Arme um ihn legen und sich an ihn schmiegen, ganz vorsichtig, um ihm nicht wehzutun. »Danke, dass du hier bei mir sein wolltest.«
»Sie müssen ruhen, Don Rafael«, sagte Juan, der gerade vom Pferd stieg. Er betrachtete die Spuren, das offene Grab und den Sack mit Hafer. Rafael stand sehr dicht neben Colby. »Habt ihr die kleine Ginny gefunden?«
Paul warf sich in Juans Arme. »Ich war das nicht! Ich weiß, dass ich es nicht war!«
Rafael beruhigte ihn mit einer kurzen Berührung. »Nein, Paul, du warst es nicht. Hier war ein Handlanger des Vampirs am Werk, jemand, der durch und durch schlecht ist. Ich gehe nicht, bevor das Kind gefunden ist. Sie befindet sich irgendwo in dieser Richtung.« Er zeigte auf die Stelle, wo Colby Spuren gesucht hatte. »Juan, du und Julio geht weiter nach oben und sucht die Gegend mit euren Ferngläsern ab. Lasst es so aussehen, als wolltet ihr weiterreiten, um
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