Verführer der Nacht
wieder. »Du hättest ihn mal als Teenager sehen sollen. Er war der böse Junge der Schule, und jetzt meint er einfach, dass alle so sind, wie er einmal war.«
Paul schüttelte den Kopf und öffnete seine Schlafzimmertür. »Als Teenager kann ich mir den überhaupt nicht vorstellen. Er weiß ja nicht mal, wie man lächelt. Gute Nacht, Colby. Du gehörst wirklich ins Bett.«
Seine Schwester zog eine Augenbraue hoch, verkniff es sich aber, über seinen autoritären Ton zu grinsen. »Gute Nacht, Paul.«
Kapitel 3
D olby seufzte und schlug die Überdecke zurück. Einen Moment lang verharrte ihre Hand auf dem schönen, handgearbeiteten Quilt. Ihre Mutter hatte die Decke in Paris bestellt. Eine berühmte, aber sehr zurückgezogen lebende Designerin hatte sie angefertigt. Colby erinnerte sich noch lebhaft daran, wie sehr sie sich die Decke gewünscht hatte, nachdem sie sie in einer Zeitschrift gesehen hatte. Sie hatte instinktiv gespürt, dass es ein ganz besonderes Stück war, das eine eigene Macht zu besitzen schien. Ihr Vater und ihre Mutter hatten sie ihr zum zehnten Geburtstag geschenkt, und sie bedeutete Colby mehr als alles andere, was sie besaß. Abgesehen von ihrer seltenen Schönheit und dem unvergleichlichen Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit, die ihr die Decke gab, war sie ein Symbol für die Liebe ihrer Eltern zu ihr.
Colby streckte sich träge und schlenderte über den Dielenboden zum offenen Fenster, wo der Wind die zarten Spitzenvorhänge bauschte. Sie trug eine kurze Pyjamahose und ein kleines Top mit Spaghetti-Trägern. Während sie langsam ihren langen Zopf löste, schaute sie aus dem Fenster hinaus in die Nacht. Sie liebte die Berge bei Nacht, wenn sie besonders geheimnisvoll und sagenumwoben wirkten. Ein dünner, weißer Nebelschleier verbarg die hohen Bergrücken. Die Ranch, die sich in ein tiefes Tal schmiegte, war von steinernen Giganten umgeben. Colby streckte beide Arme nach dem Gebirgszug aus und bot ihr Gesicht dem schimmernden Halbmond dar.
Ihr gingen so viele Dinge durch den Kopf, dass sie nicht schlafen konnte. Obwohl sie völlig erledigt war, beabsichtigte sie, um halb fünf aufzustehen. Sie lehnte sich an das Fensterbrett und starrte zu den Sternen hinauf. Paul hatte sie nichts davon gesagt, aber sie hatte vor, nach dem Füttern der Tiere in die Berge zu reiten und den alten Pete zu suchen. Schon während der letzten drei Tage hatte sie das Gelände abgesucht, indem sie sehr früh aufgestanden war und so viel Zeit, wie sie erübrigen konnte, damit verbracht hatte, nach ihm Ausschau zu halten. Trotz allem, was Ben sagte, glaubte Colby nicht, dass Pete einfach abgehauen oder auf eine Sauftour gegangen war.
Pete war Ende siebzig und litt an Arthritis, die er seiner Zeit als Rodeo-Reiter verdankte. Bei Colby hatte er ein Dach über dem Kopf, ein warmes Bett und gutes Essen, und die Arbeit auf der Ranch gab ihm das Gefühl, noch zu etwas nütze zu sein. Er war ein Mann, der die Bedeutung des Worts Loyalität kannte. Sie war sicher, dass er die Ranch nie verlassen würde, schon gar nicht, wenn er wusste, dass Colby ihr Zuhause zu verlieren drohte. Er würde sie niemals im Stich lassen. Das käme für Pete einfach nicht infrage. Colby befürchtete, dass er irgendwo da draußen war, womöglich krank oder verletzt.
In der großen Eiche vor ihrem Fenster schlug ein Vogel mit den Flügeln und erregte damit ihre Aufmerksamkeit. Er hatte ein rundes, flaches Gesicht und einen auffallenden Federschopf. Eine Eule war es nicht, aber groß, sehr groß. Der ungewöhnliche Vogel mochte gut und gern zwanzig Pfund wiegen. Colby starrte ihn an, und er starrte direkt zurück, sodass sie in seine runden, glänzend schwarzen Augen schauen konnte. Sie war mit den Vogelarten der Umgebung vertraut, aber einen wie diesen hatte sie noch nie gesehen. Wenn sie es nicht besser gewusst hätte, wäre sie überzeugt gewesen, eine Harpyie, den gewaltigen Haubenadler aus dem Gebiet des südamerikanischen Regenwaldes, vor sich zu haben. Colby lehnte sich weit aus dem Fenster und konzentrierte sich auf den Vogel.
Ohne den Blick von ihm zu wenden, versuchte sie, eine geistige Verbindung zu dem Tier herzustellen. Der Schnabel war scharf und gekrümmt, und gewaltige Krallen schlossen sich um den dicken Ast des Baumes. Die Augen des Vogels wirkten wachsam und intelligent. Colby stockte der Atem, und ihr Herz schlug vor Aufregung schneller. Harpyien lebten im Regenwaldgebiet des Amazonas und waren nicht nur äußerst
Weitere Kostenlose Bücher