Verführer oder Gentleman? (German Edition)
feuerrotem Gesicht kam Miss Murdoch zum Frühstück herunter, doch sie musste den Raum schon bald verlassen, weil sie nicht still sitzen konnte.“
„Und Sie haben Ihre Rache genossen?“
„In vollen Zügen. Aber es hat sich danach nichts geändert. Miss Murdoch behandelte uns genauso gnadenlos wie zuvor. Wenigstens konnte uns die Erinnerung an unseren Streich immer wieder ein bisschen aufheitern.“
„Nachdem Sie mir diese Geschichte erzählt haben“, begann er mit leiser, verführerischer Stimme, „weiß ich, zu welch sadistischer Grausamkeit Sie neigen. Das muss ich mir merken – niemals darf ich Ihren Unmut erregen. Vielleicht würden Sie nicht nur Juckpulver anwenden, sondern weitaus drastischere Maßnahmen ergreifen.“
„Damals war alles anders, jetzt bin ich nicht mehr elf Jahre alt.“
„Haben Sie die Geschichte nicht erfunden?“
„Nein. Aber vor all den Jahren erschien mir unser Rachefeldzug viel lustiger als jetzt, da ich ihn viele Jahre später geschildert habe.“
Dominic beobachtete, wie die Männer mit ihren Sicheln zur Feldarbeit zurückkehrten, und stand auf. Auch Juliet wollte sich erheben. Doch ihre Beine waren steif geworden, weil sie auf den Fersen gekauert hatte.
Sobald der Duke ihre Schwierigkeiten bemerkte, umfasste er ihre Hände. Mühelos zog er sie hoch. Sie schaute zu ihm auf, spürte seine verwirrende Nähe, und ihr war bewusst, wie intim seine freundliche Geste gewirkt haben musste. Völlig unpassend angesichts der unterschiedlichen Positionen, die sie im Leben einnahmen …
„Wenn die ganze Ernte eingebracht ist, müssen Sie an unserem Fest teilnehmen, Miss Lockwood. Diesen Abend dürfen Sie nicht versäumen. Aus dem Umkreis vieler Meilen werden Gäste zu uns kommen. Die Feier findet in Farmer Shepherds Scheune statt.“
„Danke für die Einladung, die ich sehr gerne annehme.“
Bevor sie zu Dolly ging und ihr half, die Essensreste einzusammeln, erlaubte sie sich, dem Duke, der sich zu den Feldarbeitern gesellte, träumerisch nachzuschauen.
Eines Nachmittags sortierte Juliet gerade einige Manuskripte, als jemand die Bibliothek betrat, und sie hob den Kopf. Voller Unbehagen erkannte sie den Gentleman – Sir Charles Sedgwick, dem sie bei ihrer Ankunft in Lansdowne House begegnet und der so furchtbar unhöflich gewesen war.
Während er zu ihr schlenderte, hielt sie den Atem an. In ihrer Fantasie erschien eine Vision von diesem jungen Mann, an der Seite der schönen Geraldine. Deutlich glaubte Juliet vor ihrem geistigen Auge zu sehen, wie er den Hals der Frau liebkoste – zu hören, wie sie vor Vergnügen wie eine Katze schnurrte. Beinahe gewann sie den Eindruck, eine erotische Skulptur würde zum Leben erwachen. Hastig verdrängte sie die unwillkommene Erinnerung und versuchte sich zu fassen.
Sir Charles Sedgwicks dichtes blondes Haar glänzte wie Seide. Zweifellos sah er sehr gut aus. Aber glücklicherweise wusste sie, was sie von ihm halten musste, und so war sie gegen seine starke sinnliche Anziehungskraft gefeit. Sie warf ihm einen eisigen Blick zu, als er den Tisch erreichte.
Doch das entmutigte ihn ganz und gar nicht. Er schob ein paar Bücher beiseite, die sie aufeinandergestapelt hatte, um sie neu binden zu lassen, und lehnte sich mit der Hüfte an die Tischkante. Die Arme vor der Brust verschränkt, grinste er selbstzufrieden.
„Ah, Miss Lockwood, so sehen wir uns also wieder …“, begann er gedehnt und musterte sie mit offenkundigem maskulinem Interesse in den verführerischen rauchblauen Augen. Erstaunt hob er die Brauen, denn diese junge Schönheit ähnelte der bleichen, derangierten, armseligen Gestalt, die an jenem Abend Dominics Dinnerparty gestört hatte, kein bisschen.
Juliet runzelte die Stirn. „Dass Sie mich nicht vergessen haben, überrascht mich. Damals sah ich ziemlich unvorteilhaft aus.“
„Da ich Ihre hinreißenden Reize nicht erkannt habe, muss ich ziemlich betrunken gewesen sein. Natürlich möchte ich Ihre Gesellschaft möglichst oft genießen, solange Sie in Lansdowne House weilen.“
„Ach, tatsächlich? Ich glaube, vor Ihnen muss ich mich in Acht nehmen, weil Sie wie ein Schurke aussehen.“
„Wissen Sie denn, wie ein Schurke aussieht, Miss Lockwood?“
Herausfordernd erwiderte sie seinen spöttischen Blick. „O ja, Sir Charles. Schon öfter sind mir Männer Ihrer Sorte über den Weg gelaufen. Und ich hielt mich stets von ihnen fern. Würden Sie jetzt bitte gehen? Ich muss arbeiten.“
Erneut grinste er.
Weitere Kostenlose Bücher