Verführerische Maskerade
hätte er auf Wärme und Herzlichkeit zu hoffen gewagt, niemals mehr hatte er mehr als einen festen Händedruck gewollt - aber doch Anerkennung. Wie oft war grundlos behauptet worden, dass das Kind ohnehin nicht verstehen könne, dass es erst älter werden müsse, um zu begreifen, was des Vaters Schweigsamkeit zu bedeuten hatte. Er hatte lernen müssen, für sich selbst zu kämpfen; er musste sich selbst anerkennen. Mehr brauchte er nicht, um das Schicksal zu erfüllen, in das er hineingeboren worden war.
Eigentlich gar keine schlechte Lektion für das Leben, dachte er jetzt, und dafür hätte es kein besseres Vorbild geben können als seinen Vater. Der Mann hatte sein ganzes Leben seinem Vaterland und seinem mutterlosen Sohn gewidmet. Alex wusste, dass sein Vater die Mutter verlassen und ihr Kind um seinetwillen nach Russland zurückgebracht hatte. Obwohl er als Kind den Vorteil nicht immer hatte erkennen können, wie er zugeben musste; trotzdem hatte er niemals in Zweifel gezogen, dass sein Vater aus reiner Selbstlosigkeit gehandelt hatte. Alex hatte zwar keine Ahnung, in welcher Beziehung sein Vater mit der Mutter seines Kindes verbunden gewesen war, aber er wusste, dass der Mann damals keine Wahl gehabt hatte. Und jetzt durfte er die Früchte jener Entscheidung genießen.
Allerdings habe ich auch an den Lasten schwer zu tragen gehabt, dachte er weiter. Sein Vater war ein geradezu begeisterter Patriot gewesen, und Alex hatte seine Lektion gelernt. Auch ihn erfüllte die Liebe zu seinem Vaterland bis ins Mark. Es war wie ein innerer Befehl, der ihn bis in die Straßen Londons geführt hatte … und ihm die Aussicht verhieß, Livia Lacey in seinem Bett zu finden.
Bei dem Gedanken beschleunigte sich sein Schritt, und sein Körper versteifte sich, als er sich daran erinnerte, wie weich sie sich an ihn geschmiegt und wie leidenschaftlich sie auf ihn reagiert hatte. Aber er durfte auch nicht vergessen, dass er sich nur deshalb auf die Suche nach einer Frau gemacht hatte, um seinen Auftrag leichter erledigen zu können. Niemals hätte er damit gerechnet, dass seine Suche mit einer solch großartigen Aussicht enden würde. Livia und er würden wunderbar zueinander passen.
Die Lichter einer Kneipe schimmerten aus einer Seitenstraße. Alex fühlte sich wie magisch zu dem gelben Licht hingezogen. Das Gelächter, die erhobenen Stimmen, die Bierkrüge, die auf die Tische gedroschen wurden. Er stieß die Tür auf und tauchte ein in den Dunst aus Tabak und abgestandenem Bier.
Ein paar Köpfe drehten sich zu ihm um. Doch kurz darauf widmeten die Biertrinker sich wieder ihrer abendlichen Beschäftigung. Warum sollten sie sich für einen weibischen Aristokraten mit Hirschlederhosen interessieren, der noch dazu einen glänzenden Mantel und einen hochgebundenen Krawattenschal trug? Trotzdem sah der Mann nicht danach aus, als ließe er sich im Handumdrehen ausrauben. Also schenkte man ihm besser keine Beachtung.
Alex eilte zur Biertheke und schmiss eine Kupfermünze auf den Tisch. »Bier.«
Der Wirt stellte einen Krug unter den Zapfhahn, füllte und platzierte ihn geräuschvoll auf der Theke, während er mit der anderen Hand gleichzeitig die Münze einstrich. Sofort wandte er sich einem anderen Gast zu.
Alex zog sich mit dem Bierkrug auf eine fleckige Bank in einer abgelegenen Ecke zurück. Nach ein paar tiefen Schlucken freute er sich darüber, dass er in dem Lokal vollkommen unbekannt war. Für ein paar Minuten konnte er in diese kleine Welt eintauchen, wo man über jene andere Welt nichts wusste, in der er sich gewöhnlich bewegte. Kein Mensch in diesem lauten, überfüllten Schankraum gab einen Pfifferling darauf, wer er war und was ihn umtrieb. Was für ein seltener Luxus, dachte er, rein in der Gegenwart zu leben. Er hatte viel erreicht und konnte es sich leisten, für einen Moment darin zu schwelgen, ohne darüber nachzugrübeln, was die tieferen Gründe waren. In diesem Augenblick genoss er seine Freude über Livia Lacey, genoss das Versprechen auf die Hochzeitsnacht, die vor ihm lag, und auf das Leben, das sie erwartete. Wenn die Götter ihnen gewogen blieben.
Plötzlich traf ein warmer Atem seine Wange. Eine Frau stand neben ihm, hatte ihren Rock leicht gerafft, und der üppige Busen sprang fast aus ihrem Mieder. »Sir, Sie sehen einsam aus.« Sie stellte zwei Bierkrüge zwischen sich und Alex. »Trinken Sie mit mir.«
Alex ärgerte sich über die Störung, zeigte es aber nicht, obwohl er sich nichts weniger
Weitere Kostenlose Bücher