Verführerische Unschuld
Onkel einen durchbohrenden Blick. „Ich heiße John.“
„Dann also John. Ich bin dein Onkel St John Radwell. Unsere Namen sind sehr ähnlich, nicht wahr?“
„Nein, das stimmt nicht. Und mein Vater sagt, wir sind uns in nichts ähnlich, und das freut ihn.“
„John!“, mahnte Miranda. Dann schob sie ihre Tochter vorwärts und sagte: „Und das ist die kleine Charlotte.“
Radwell beugte sich noch tiefer hinab, zog einen Penny aus seiner Tasche und überreichte ihn dem Kind. „Meine hübsche Charlotte, ich bin entzückt, dich kennenzulernen.“
„Danke, Onkel“, murmelte die Kleine verlegen lächelnd.
„Nichts zu danken.“
„Und wo ist mein Penny?“, verlangte Klein John zu wissen, während er ihn mit dem gleichen befehlenden Blick musterte, den sein Vater so gut beherrschte.
„John …“, mahnte Miranda abermals.
Doch Radwell lächelte den Jungen an. „Noch in meiner Tasche, Johnny. Dein Vater hat übrigens recht, du gleichst ihm mehr als mir.“ Er zauberte eine zweite Münze hervor und drückte sie dem Knaben in die Hand. „Wenn er mal nicht Acht gibt, komm zu mir, dann erzähle ich dir, was er alles angestellt hat, als er noch klein war.“
Marcus trat näher zu seinem Sohn, und Radwell spürte förmlich, wie ein Eiseshauch die Luft durchzog.
„Du hast die Erziehung deines Kindes vernachlässigt, Marcus. Weiß er noch nicht, wie man sich in die Küche schleicht und Konfekt stibitzt, ohne dass die Köchin es merkt?“
Miranda warf ihm einen warnenden Blick zu, doch der Knabe betrachtete ihn nun mit kaum verhüllter Neugier.
„Weißt du, dein Vater zeigte mir einst, wie das geht. Nun kannst du es von mir lernen. Aber sag’s nicht deiner Mutter, sonst gerbt sie uns beiden das Fell.“
Als er bemerkte, dass Marcus sich wieder beruhigte, fragte er sich: Was, dachte er wohl, würde ich dem Jungen erzählen?
Die Kinder zogen sich zurück und versteckten sich hinter den Röcken ihrer Gouvernante – dachte Radwell zumindest, bis er den Blick hob und seinen Irrtum bemerkte. Zwar war das Kleid schlicht geschnitten, doch der feine blaue Wollstoff war zu kostspielig für eine Bedienstete. Und das Gesicht der Frau, die liebevoll auf die Kinder niederblickte, war ihm allzu bekannt.
„Miss Canville?“ Ihr Anblick warf ihn aus dem Gleichgewicht. Dass sie die Familie begleiten würde, war ihm bekannt, aber erwartet hatte er das verzweifelte Mädchen, das ihn in seiner Wohnung aufgesucht hatte. Die modisch gekleidete junge Dame, die nun vor ihm stand, erkannte er kaum wieder. Nichts an ihr deutete auf Kümmernisse hin, ihr hübsches lächelndes Gesicht spiegelte keine Sorgen. Sie anzusehen schien seine Anspannung zu lösen, wie es geschah, wenn man einen schönen Frühlingstag genoss. Mit dem zu einem schlichten Knoten geschlungenen Haar und den an ihren Röcken hängenden Kindern wirkte sie trügerisch unschuldig, doch der Blick ihrer großen blauen Augen, mit denen sie ihn nun ansah, war keineswegs mütterlich.
„Captain Radwell, wie schön Sie wiederzusehen.“
„Desgleichen, Miss Canville.“ Er verneigte sich, etwas verspätet. „Fühlen Sie sich wohl bei meinem Bruder und seiner Familie?“
„Bestimmt wohler als bei Ihnen.“ Schon wollte er ihr eine Entschuldigung anbieten, da bemerkte er ihre spöttisch gekräuselten Lippen. Sie hatte ihn wieder aus dem Gleichgewicht gebracht und genoss es.
„Nun, das höre ich gern.“ Wie peinlich! Plötzlich wusste er nicht, was er sagen sollte.
„Der Duke und die Duchess sind sehr freundlich zu mir. Danke, dass Sie mich zu ihnen gebracht haben.“
Er nickte. „Ganz zu Diensten, Miss Canville.“ Dann erinnerte er sich an seine Aufgabe: Eigentlich war er ja hier, um ihre Tugend zu gefährden. „Zumindest, wenn es um dergleichen geht“, fügte er also hinzu, mit einem, wie er hoffte, anzüglichen Blick.
Doch sie lachte einfach. Nichts von verlegener Sittsamkeit oder dem wissenden Kichern einer Mätresse klang darin mit, sondern sie lachte so, als könnte sie ihn richtig einschätzen und glaubte nicht, dass er gefährlich sei.
Wie außerordentlich irritierend! Vor fünf Jahren hätte er mit geringerem Aufwand jedem jungen Ding die Schamröte in die Wangen treiben können, doch Esme Canville, die, nachdem sie betäubt und verschleppt worden war, vor Schreck ganz schwach sein müsste, lachte über ihn. Sein Ruf als gefährlicher Frauenheld musste dringend aufpoliert werden.
Allerdings fiel ihm ein, dass er ja gerade dabei war, seinen
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