Verführerische Unschuld
über Bord gefallen und würde von der Strömung ins offene Meer gezogen, immer weiter fort vom sicheren Land.
„Radwell!“ Die scharfe Stimme seines Bruders brachte ihn in die Gegenwart zurück. Mit gewitterschwarzer Miene stand Marcus an der Tür seines Arbeitszimmers.
Schnell entzog er Esme seine Hand und verkündete möglichst gelassen: „Die erste Station unserer Besichtigung ist das Arbeitszimmer meines Bruders. Marcus, du vernachlässigst deinen Gast. Es… ah … Miss Canville weiß nicht, wo ihre Räume sind.“
„Bestimmt braucht sie nicht deine Hilfe, um sie zu finden.“ Marcus funkelte ihn an, dann wandte er sich an Esme. „Es tut mir leid, Miss Canville, ich kann mir nicht vorstellen, warum meine Gattin Sie derart im Stich lässt. Wahrscheinlich ein Problem mit den Kindern …“
Während Marcus nach dem Butler läutete, überlegte Radwell, dass die Kinder vorhin bei der Begrüßung offensichtlich wohlauf gewesen waren. Trotzdem war Miranda davongeeilt und hatte ihn mit Esme allein gelassen. Bestimmt erwartete sie nicht, dass er das Mädchen gleich in den ersten fünf Minuten verführte?
Als der Butler schließlich die ein wenig in sich gekehrte Esme fortführte, seufzte Radwell erleichtert. Was immer sie vorgehabt haben mochte, er war außerordentlich froh, dass es vereitelt worden war. Für seinen Geschmack benahm sie sich viel zu forsch. Erlöst wandte er sich vom Anblick ihrer entschwindenden Gestalt ab, nur um seinem immer noch ärgerlichen Bruder gegenüberzustehen.
„Wir unterhalten uns hier drin. Bitte.“
Das Wort ‚bitte‘ nahm St John nicht wörtlich, es war ein Euphemismus für ‚sofort‘, ein herzoglicher Befehl, der wegen eventueller Mithörer in eine brüderliche Bitte gekleidet war. Gut denn. Fünf Jahre hatte er militärischen Befehlen Folge geleistet, also würde es ihm hier auch nicht schwerfallen. Gleichmütig zuckte er mit den Schultern und schlenderte hinter seinem Bruder, der bolzengerade vorausging, in das Arbeitszimmer, wo er sich lässig auf den Stuhl vor dem Schreibtisch sinken ließ und abwartete, was Marcus zu sagen hatte.
„Wenn du dich nun schon hier aufhältst, sollen wir ein paar Verhaltensmaßregeln aufstellen. Ich möchte nicht, dass dein Besuch hier noch schlimmer endet als die früheren.“
Radwell lächelte. „Schlimmer wäre schlecht möglich. Tiefer kann ich kaum sinken.“
Marcus überhörte das und fuhr fort: „Wenn du unter meinem Dach bleiben willst, erwarte ich, dass du dich eines Mindestmaßes an Anstand befleißigst, deshalb habe ich hier eine Liste verfasst.“ Er zog ein gefaltetes Papier aus seiner Tasche.
„Du hast eine Liste gemacht?“ Radwell reckte den Hals, um einen Blick darauf werfen zu können, doch Marcus verwehrte ihm Einsicht. „Also, das sieht dir ähnlich, Bruder, stets auf Ordnung bedacht! Gott verhüte, dass wir etwas dem Zufall überlassen. Ist deine Feder gespitzt? Dann können wir deine Liste Punkt für Punkt abhaken.“
Marcus sah von dem Blatt auf und warf seinem Bruder einen scharfen Blick zu, doch der antwortete mit einem Lächeln. Da es ihm nicht gelang, dem gestrengen Herzog eine Spur von Belustigung zu entlocken, sagte er: „Nun lies schon, damit wir es hinter uns bringen.“
„Zuerst einmal lass die Dienstboten in Frieden: Finger weg von den Hausmädchen, kein Herumlungern im Dienstbotentrakt und kein Versuch, die Leute für dich einzunehmen, kein verstohlenes Herumschleichen; du wirst durchs Portal ein- und ausgehen, und wenn ich dir zu verschwinden befehle, wirst du widerspruchslos gehen.“
Gleichgültig begutachtete Radwell seine Fingernägel.
„Du wirst nicht spielen, nicht herumhuren, nicht trinken.“
„Gilt das nur hier im Haus oder für den gesamten Besitz? Unten im Dorf gibt es nämlich eine Schenke …“
Er schaute seinem Bruder in die zornflammenden Augen. „Schon gut, ich werde das Leben eines Geistlichen führen, wenn du willst. Aber ändere den letzten Punkt in ‚keine öffentliche Trunkenheit‘. Ich kenne deinen Weinkeller und werde nicht auf einen guten Tropfen verzichten, egal, was du sagst.“
„Gut. Weiterhin wirst du Miss Canville nicht belästigen, noch sonst einen Gast.“
„Wie genau definierst du ‚belästigen‘? Wenn ihr verlangt, dass ich ihr das Herz breche, kann ich wohl den Umgang mit ihr nicht völlig vermeiden.“
„Ich meine unerwünschte Aufmerksamkeiten.“
„Da hast du’s nun, Marcus. Sie ließ deutlich durchblicken, dass ihr meine
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