Verführerische Unschuld
Morgen wird sie schon Vernunft annehmen, dachte ich, und bis dahin ist ihre Tugend nicht gefährdet. Welcher Vater würde es nicht als eine Ehre ansehen, dass seine Tochter die Nacht in einem so erlauchten Hause wie dem euren verbringt. Außerdem würde ihr Name nicht mit dem meinen in Verbindung gebracht, da allgemein bekannt ist, dass wir uns entzweit haben.“
Marcus nickte. „Das klingt recht vernünftig. Niemand würde sie hier vermuten, wenn du die Finger im Spiel hast. Aber was fangen wir nun mit ihr an?“
Miranda räusperte sich. „Ich habe einen etwas ungewöhnlichen Vorschlag, der zumindest eine kurzfristige Lösung bietet. Natürlich muss sie bereit sein, mitzuspielen.“ Sie sah den Schwager an. „Du wirst behaupten, dass du gestern Abend allein warst und früh zu Bett gingst. Esme Canville hast du nie gesehen. Tratscht deine Dienerschaft?“
Radwell zuckte mit den Schultern. „Eure etwa nicht?“
Mit einem Blick zu Marcus fuhr Miranda fort: „Dann müssen wir den Leuten die Hände salben, damit sie den Mund halten. Auf jeden Fall darf im Haus der Canvilles niemand von Esmes Eskapaden erfahren.“
Nach kurzem Zögern nickte Marcus.
„Nun zu uns, mein Gemahl: Wir beide fuhren an jenem Abend mit dem Wagen durch die Straße, in der die Canvilles wohnen – warum, ist unwesentlich –, als wir ein fremdes Mädchen sahen, das benommen und fiebrig umherirrte. Es musste wohl ernstlich erkrankt sein und hatte sein Heim im Fieberwahn verlassen. Wir nahmen es zu uns in die Kutsche, und sein Zustand ließ nicht zu, es nach Hause zu schicken.“
Radwell grinste. „Weißt du, Miranda, das ist eine großartige Geschichte. Sag, willst du nicht Theaterstücke schreiben?“
Im Blick ihres Gatten flammte Zorn bei dem impertinenten Vorschlag auf, doch Miranda fuhr schnell fort: „Und du, Marcus, hast inzwischen herausgefunden, wo die junge Dame hingehört, und wirst Mr. Canville die betrübliche Nachricht von ihrer Erkrankung überbringen. Natürlich wirst du ihm versichern, dass wir seine Tochter sorgfältig betreuen, bis sie wieder völlig genesen ist, was sich natürlich über mehrere Wochen hinziehen wird und am besten in Devon auf unserem Landsitz geschehen sollte, fern des Stadtlärms, in kräftigender reiner Luft. Trage einen förmlichen dunklen Anzug, denn Mr. Canville billigt nur schmucklose Schlichtheit. Aber nimm unsere vornehmste Kutsche und vier Lakaien, das wird ihn beeindrucken. Seine Geringschätzung für Äußerlichkeiten wird sich gewiss nicht auf deinen Titel erstrecken.“
Marcus lächelte spöttisch. „Gut denn. Ich erschrecke ihn also mit der schweren Erkrankung seiner Tochter und erschlage ihn dann mit meinem Titel, damit er sie uns überlässt. Und was machen wir mit Miss Canville und ihrem angeblichen Fieber?“
„Wie gesagt, wir entfernen sie aus der Stadt und aus den Fängen ihres Vaters und ihres zukünftigen Auserwählten. Dann geben wir diverse Gesellschaften und stellen sie in der Nachbarschaft vor. Obwohl ich erst wenige Gespräche mit ihr geführt habe, meine ich schon sagen zu können, dass sie nicht dumm ist. Außerdem ist sie sehr hübsch. Allerdings hat ihr Vater sie sorgfältig vor jedem Umgang mit dem anderen Geschlecht bewahrt, sodass ihr noch nie jemand den Hof machte. Finden wir eine gute Partie für sie, braucht sie nie wieder nach Hause zurückzukehren. Sie ist bald volljährig. Nur weil ihr Vater sie ständig bewacht, hat sie bisher keinen annehmbaren Mann gefunden. Sollte es uns gelingen, üben wir so lange Druck auf Mr. Canville aus, bis er nachgibt, oder schieben ihre Heimkehr auf, bis sie volljährig ist. Damit lösen wir all ihre Probleme.“
Marcus lächelte nicht mehr ganz so erfreut. „Zwar stimme ich mit dir überein, dass wir den Ruf der jungen Dame schützen müssen, aber wir haben nicht das Recht, sie ihrer Familie zu entfremden und ihre Zukunft in unsere Hände zu nehmen. Wenn ihr Vater möchte, dass seine Tochter die Gesellschaft meidet, steht es uns nicht an, ihn eines Unrechts zu zeihen.“
Miranda biss sich auf die Lippe. Falsch gemacht, dachte sie, ich hätte mit Marcus unter vier Augen sprechen und ihm alles enthüllen müssen, dann hätte er mir mit Sicherheit zugestimmt. Wenn ich hier vor den beiden Brüdern die Miss handlungen als Argument anführe, enttäusche ich Esmes Vertrauen. „Marcus, ich weiß, dass wir legal nichts machen können, aber wir haben die moralische Verpflichtung, ihr nach Kräften zu helfen. Vertrau mir bitte,
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