Verführerische Unschuld
begibst, werden deine Eltern bald graue Haare haben. Nun, heute ist alles gut gegangen, deshalb beeilt euch, schlüpft zurück ins Schulzimmer, ehe jemand etwas merkt.“
Als die Kinder davonrannten und er sie im Haus verschwinden sah, atmete er erleichtert auf.
„Mein Bruder predigt Geduld und Gehorsam? Dass ich das noch erlebe!“
Angespannt wartete Radwell, bis Marcus herangekommen war. „Es sind deine Kinder. Warum hast du sie nicht ermahnt?“
„Um nichts in der Welt hätte ich deine großartige Rede verpassen wollen“, entgegnete der Duke, während er durch die kleine Seitentür in den Stall trat und sie hinter sich schloss. „Ich war schon auf der Suche nach den beiden. Na ja, du weißt, Knaben und Pferde … Aber ich hatte nicht damit gerechtet, dich bei ihnen zu sehen.“ Er klang ein wenig verkrampft. „Hatte ich nicht gesagt, du solltest dich von ihnen fernhalten?“
„Ja, ich weiß; um kein schlechtes Beispiel zu geben. Ich dachte, das gilt nicht, wenn ich mit gutem Beispiel vorangehe.
Du kennst dieses Tier doch!“ Er tätschelte den Hengst, der sofort die Zähne bleckte. „Ich konnte sie sich doch nicht in Gefahr begeben lassen und hinterher behaupten, ich hätte nur deine Anweisungen befolgt.“
Leise sagte Marcus: „Früher hättest du vielleicht so gehandelt. Er ist immerhin der Erbe. Er steht dir im Weg.“
„Zu Land und Titel? Darauf bin ich schon lange nicht mehr aus. Inzwischen weiß ich, dass ich in meinem jugendlichen Leichtsinn alles zugrunde gerichtet hätte. So ist es besser. Deinen Leuten geht es gut, der Besitz blüht! Es sei alles dein, Bruder, genieße es, und bleib gesund dabei.“
„Du hast dich also wirklich geändert?“
„An Brudermord habe ich nie gedacht, nicht einmal, als ich dich bedrohte. Aber selbst damals hätte ich einem Kind nichts zuleide tun können. Und auch du warst nicht in Gefahr, obwohl du das glaubtest; ich war nie so gefährlich, wie ich mir vorzumachen beliebte. Und wenn ich mich verändert habe, dann, weil ich klug genug geworden bin, das zu erkennen.“
Er konnte die Verwunderung seines Bruders beinahe körperlich spüren.
„Und was war nun wirklich letztens, als du zu spät zum Essen erschienst?“
Seufzend erklärte Radwell: „Ich habe tatsächlich in meinem Zimmer geruht. Genau wie vorhin draußen im Garten, als deine Rangen mich störten.“
Marcus fragte weiter: „Und warum schläfst du nachts nicht friedlich in deinem Bett, sondern musst dich am hellen Tage irgendwo zum Schlummer verkriechen? Schlechtes Gewissen?“
„Wärest du überrascht? Ich gebe zu, ich kann nicht schlafen; aus Angst wage ich nicht die Augen zu schließen, denn seit Portugal quälen mich Albträume.“
Unwillkürlich nickte Marcus mitfühlend.
„Ein paar Stunden Schlaf kann ich nachts mit Hilfe von Laudanum ergattern, und tagsüber stehle ich mir die eine oder andere ruhige Minute. Tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen, aber wenn ich den Hausmädchen zu nahe trete, dann höchstens, indem ich sie schelte, weil sie mich geweckt haben.“
„Du klingst wie ein alter Mann.“
„Mag sein.“ Radwell lachte leise. „Der Krieg hat mich älter gemacht, ja. Ein Trost war mir jedoch, wenn ich dort draußen wach lag, in dem Bewusstsein, am nächsten Morgen dem Tod ins Auge sehen zu müssen, daran zu denken, dass ich beim Heimkehren nirgends besser aufgehoben wäre als im Haus meines Bruders. Wie alt und wacklig ich auch werden mag, du wirst trotzdem immer der Ältere sein. Da fühlt man sich doch gleich besser.“
Auch Marcus lachte. „Solche Bemerkungen passen viel besser zu dir.“
„Wie schön, dass ich deine Erwartungen erfülle. Und was deine Kinder angeht – ich gehe ihnen aus dem Weg, außer die Situation verbietet es, wie heute.“
„Also, was das angeht …“ Marcus räusperte sich umständlich. „Du musst dich vielleicht nicht ganz so fest daran halten. Du kannst dich mit den Kindern abgeben, wenn du magst.“
„Dein Sohn ähnelt dir sehr, im Aussehen und in seiner Art.“ Daran, wie sein Bruder vor Stolz fast platzte, merkte Radwell, dass er genau das Richtige gesagt hatte.
Nachdenklich schaute Marcus zum Haus hinüber. „In den nächsten Jahren wird er sicherlich recht schwierig werden, sturköpfig. Wie sein Vater.“
„Mag sein, aber du wirst dann eine wunderschöne Tochter haben, die dich von den Problemen ablenkt. Sie wird ihrer Mutter sehr ähnlich.“
Die Erwähnung Mirandas ließ die Atmosphäre abkühlen, doch enthielt
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