Verführerische Unschuld
legte die Hand auf den Türknopf. Ungeduldig stieß er den Gehstock im Rhythmus der Zahlen auf den Boden, doch vor Angst war sie wie erstarrt. Schließlich überwand sie sich und öffnete. „Vater, es tut mir leid …“
Ohne ein Wort schob er sie zurück in ihr Zimmer, folgte ihr und schloss die Tür hinter sich. Dann zerrte er sie zur Wand, wirbelte sie herum und ließ seinen Stock immer wieder auf ihren Rücken niedersausen. Als er endlich von ihr abließ, sank sie vor ihm zu Boden.
„Das wird dich hoffentlich lehren, mich nicht warten zu lassen. Nun reiß dich zusammen. Du wirst zum Dinner hinunterkommen.“
„Esme.“ Diese Stimme war kein Hirngespinst. Sie fuhr zusammen und fand in die Gegenwart zurück. Sie sah den besorgten Blick Radwells auf sich ruhen.
„Was ist mit Ihnen?“
„Nichts. Nichts, mir geht es gut.“
„Aber Sie sehen aus …“
„Nun, gewiss nicht ärger als Sie. Gerade Sie sollten doch nachfühlen, was zu viel Wein und zu wenig Schlaf ausrichten können.“ Kopfschmerz vortäuschend, rieb sie sich die Schläfen.
„Zu viel Wein?“ Skeptisch kniff er die Augen zusammen.
„Den Eindruck gewann ich gestern nicht von Ihnen.“
„Aber es war mehr als genug, versichere ich Ihnen“, sagte sie scharf.
„Wirklich? Mir schien, Sie wollten mehr.“
Unwillkürlich hob sie die Hand wie zum Schlag, machte jedoch eine unverfängliche Geste daraus, um nicht zu zeigen, wie sehr die Worte sie verletzt hatten. Ehe sie sich besinnen konnte, griff Radwell nach dem Brief, den sie hatte fallen lassen.
„Quäl das Mädchen nicht“, mahnte Miranda den Schwager.
Esme sah auf und errötete beschämt. Sie hatte vergessen, dass sie nicht mit Radwell allein war.
Er faltete den Brief auf und überflog ihn. „Verzeihen Sie die Anmaßung. Ich befürchtete hier verstörende Nachricht für Sie zu finden, doch klingt dies alles anscheinend recht harmlos.“
Miranda wandte sich mit unterdrücktem Zorn ihrem Schwager zu. „Das gibt dir nicht das Recht, anderer Leute Briefe zu lesen. Du solltest dich entschuldigen.“
„Schon gut. Es ist nicht schlimm.“ Esme bemühte sich, ruhig zu sprechen. Sie wandte sich wieder ihrem Frühstück zu und gab vor, schrecklich hungrig zu sein.
Radwell schaute sie immer noch an; sie konnte es so intensiv fühlen, dass sie schließlich aufsah und seinem Blick begegnete.
„Ich denke doch. Es tut mir leid, Esme, ich entschuldige mich für das, was ich falsch gemacht habe.“ Er sprach so nachdrücklich, dass sie vermuten musste, er bezöge sich nicht nur auf den Brief.
„Es hat nichts zu bedeuten, wirklich“, murmelte sie, den Blick auf ihren Teller senkend. Sie hörte Papier rascheln und sah, dass er ihr den Brief zugeschoben hatte. Rasch schob sie ihn in ihren Ärmel.
„Esme.“ Er sprach leise, aber eindringlich. „Esme, sehen Sie mich an.“ Seine Miene war ernst, doch ermutigend. „Es tut mir wirklich leid, dass ich Sie betrübt habe. Wenn ich nicht sicher wäre, dass Miranda und mein Bruder eine bessere Lösung wissen …“ Er brach ab. „Nein, selbst wenn sie Ihnen nichts Besseres bieten könnten, wüsste ich nicht, wie ich Ihnen helfen könnte. Aber was ich auch tue, ich tue es, weil ich Ihr Bestes will, selbst wenn es Ihnen grausam erscheint.“ Mit sanftem Druck legte er seine Hand auf die ihre.
Sie ignorierte, dass ihr Herz einen kleinen Freudenhüpfer machte, als er sie berührte, sondern sagte sehr artig: „Danke, ich verstehe.“
Sie verstand sogar sehr gut. Also hatte sie schon wieder jemanden gefunden, der unbedingt ‚ihr Bestes‘ wollte, ohne Rücksicht darauf, was sie sich wirklich wünschte. Aber nun, da sie der Tyrannei ihres Vaters entkommen war, würde sie über kurz oder lang auch St John Radwell deutlich klarmachen, was für sie beide am besten war.
Lächelnd nahm sie noch eine Gabel Rührei.
Radwell schloss die Augen und konzentrierte sich auf die seltsamen Muster, die das Licht auf die Innenseite seiner Lider malte, wenn das Blätterdach über ihm im Wind wogte. Wie angenehm es war, unter einem Baum im Garten zu sitzen. Vielleicht würde er sogar ein wenig schlummern können.
Er sollte sich nicht zu sehr auf Haughleigh eingewöhnen. Wenn er zu lange auf dem Landsitz verweilte, auf dem nun sein Bruder der Herr war, würde Marcus sich wundern, und er mochte ihm nicht sagen, dass sein Beutel wieder einmal leer und er auf Almosen angewiesen war. Wenn er zugab, sich im Moment keinen anderen Wohnsitz leisten zu können, würde
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