Verführerische Unschuld
und sackte mit geschlossenen Augen neben dem schwer nach Atem ringenden Marcus ins Gras.
Ach, könnte er doch für immer hier auf dem kühlen Rasen liegen bleiben! Die ersten Vögel zwitscherten ihr Morgenlied in den Bäumen. Unversehens glitt ein Schatten über ihn hinweg. Sein Bruder war aufgestanden. „Mach ein Ende, Marcus.“
Mit spröder Stimme kam die Antwort. „Ich kann keinen Unbewaffneten töten.“
Radwell lachte, doch er spürte eine Träne auf seiner Wange. „Unzweifelhaft bringe ich es nicht über mich, dich zu töten, nicht einmal, wenn du mich Feigling nennst. Vielleicht bin ich ja sogar einer, da ich offensichtlich nicht die Kraft habe, mich selbst umzubringen. Tut mir leid, großer Bruder, auch diese Aufgabe wirst du für mich erledigen müssen.“ Er drückte seine Wange in das kühle duftende Gras. „Es ist so friedlich hier. Mach ein Ende. Bitte.“
Marcus’ Stimme klang noch rauer als zuvor. „Zur Hölle mit dir, steh auf und kämpfe!“
„Du brauchst mich nicht zur Hölle zu wünschen, die Hölle habe ich mir schon selbst erschaffen – als ich, mit Schande beladen, von hier fortging, und schlimmer noch, als ich wiederkam, denn da hatte ich Blut an den Händen.“ Er spürte, wie er zu zittern begann. „So viel Blut. Einen Helden nannte man mich dafür.“ Jetzt lachte er, dass es ihn schüttelte. „Die Schreie der Sterbenden höre ich immer noch. Ohne Laudanum finde ich nicht eine Nacht Ruhe. Du hast gesehen, was passiert, wenn ich es nicht nehme. Ich schlafwandle und weiß nicht, was ich in dem Zustand tue. Ich bin es so leid – die Droge und mein Leben. Lieber Gott, lass es enden.“
Ein Geräusch wie ein Schluchzen drang an sein Ohr, dann setzte sein Bruder sich neben ihm auf den Boden, rollte seinen Rock zu einem Bündel und schob es ihm sanft unter den Kopf. „Schlaf. Ich werde neben dir wachen, du hast nichts zu befürchten.“
Einen kurzen Moment glaubte Radwell das sogar.
Die Sonne war ein Stück höher gewandert, als er ruckartig erwachte. Er stützte sich auf einen Ellbogen und wandte sich Marcus zu, der an einem nahen Baum lehnte. „Wie lange habe ich geschlafen?“
„Etwas über eine Stunde.“
Radwell stand auf, schüttelte den Rock, der sein Polster gewesen war, aus und reichte ihn seinem Bruder. „Dank dir. So lange habe ich seit Wochen nicht mehr geschlafen.“
Kopfschüttelnd murmelte Marcus: „Da findet das unvermeidliche Duell statt, das endlich alles zwischen uns richten soll, und du schläfst mittendrin ein. Ob sich mein Stolz je davon erholt?“
„Du warst ein beachtlicher Gegner.“
Traurig lächelnd antwortete Marcus: „Du hast schon mal besser gelogen. Als wir kämpften, warst du ehrlicher, und du hattest recht. Es war dumm, dich zu fordern, ich kann froh sein, dass ich noch lebe.“
„Aber ich log, um dich zu reizen! Natürlich respektiere ich deine Familie und dein Heim. Ich weiß, dass ich nie wiedergutmachen kann, was ich dir antat, doch zumindest kann ich abreisen, damit ich die gegenwärtige Lage nicht noch verschlimmere.“
„Abreisen? Bestimmt nicht, nachdem du endlich wieder zu Hause bist.“ Marcus zog eine Taschenflasche hervor und trank ausgiebig. „Da, wenn du möchtest? Das reicht auch für zwei.“
Radwell lächelte breit. „Danke, ja.“
Die Kutsche mit ihren Sekundanten hatten sie schon längst fortgeschickt; gemächlich gingen sie nun zum Haus zurück. Radwell fühlte sich unendlich erleichtert. Unauffällig musterte er seinen Bruder, der wortlos neben ihm herschritt und ihm, ohne aufzublicken, abermals die Flasche reichte. Dankbar lächelnd dachte Radwell: Ich bin nicht allein.
Das Lächeln verging ihm, als sie über die Schwelle traten. Marcus hatte die Tür geöffnet, ließ ihm jedoch den Vortritt. Dort in der Halle stand tränenüberströmt Miranda. Bei seinem Anblick stürzte sie sich schluchzend auf ihn und hämmerte mit ihren Fäusten kraftlos auf ihn ein. Über ihre Schulter hinweg sah er Esme zusammengesunken auf den unteren Treppenstufen sitzen, auch sie weinte, schien jedoch ganz kraftlos vor Erleichterung.
„Meine Liebe, fasse dich und lass meinen Bruder in Ruhe“, mahnte Marcus, der inzwischen auch eingetreten war.
Als Miranda seine Stimme hörte, warf sie sich ihrem Gatten in die Arme. „Niemand sagte uns etwas, und als ich nur Radwell sah, dache ich, du wärest tot. Oh, Blut!“ Sie schnüffelte. „Und Brandy!“ Mit einem anklagenden Blick auf Radwell rief sie: „Was hast du ihm
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