Verführerische Unschuld
Marcus’ Schreiben an Mr. Canville war mit unhöflicher Knappheit beantwortet worden: Seiner Tochter gehe es gut, sie danke für die ihr gewährte Hilfe, benötige sie jedoch nicht länger.
Schließlich erhielt Radwell einen ähnlich lautenden Brief, in dem Canville ihm die Hand seiner Tochter verweigerte und weiterhin mitteilte, seine Tochter sei verlobt, seine weiteren Aufmerksamkeiten seien ihr lästig.
Die Furcht, dass die Worte nicht allein Esmes wütendem Vater zuzuschreiben waren, nagte an ihm, doch scheute er davor zurück, sie aufzusuchen, da ihr das bestimmt wieder eine Bestrafung einbringen würde.
Um diesem gestrengen Herrn nicht unter die Augen zu kommen, hatte er sich auch bis zur offiziellen Verleihung seines neuen Titels im Stadtpalais seines Bruders eingerichtet, anstatt in sein altes Apartment zurückzukehren.
In zwei Wochen würde er Esme an Halverston verlieren, denn unmittelbar nach ihrer Heimkehr hatte Canville ihre Verlobung mit dem Earl in der Times verkündet und das Auf gebot bestellt.
Nein, er würde sie nicht verlieren! Wenn es nicht anders ging, musste er zu drastischen Mitteln greifen! Wenn er sie nicht anders erreichen konnte, würde er sie, ohne Rücksicht auf seine Ehre und auf den Skandal vom Altar fortzerren und mit ihr durchbrennen.
Marcus hatte ihn beruhigt, indem er versprach, ihnen Einlass zur Verlobungsfeier zu verschaffen. Zweifellos würde Canville sich nicht so weit beschämen, ihnen vor den Augen der versammelten Gesellschaft die Tür zu weisen.
Und nun standen sie also hier vor der Flügeltür, die zum Ballsaal führte, wo Canville die Gäste begrüßte.
„Überlass ihn mir“, murmelte Marcus seinem Bruder zu. „Geh unauffällig an der Schlange vorbei und widme dich ganz der Suche nach Esme.“
Er entdeckte sie sofort; auf der fast leeren Tanzfläche, wo sie zu den Klängen eines Walzers in den Armen ihres zukünftigen Gemahls lag. Als das Paar eine Drehung vollführte, sah Radwell ihr Gesicht. Ihr Blick war starr, wie der eines Kaninchens vor der Schlange.
Als er den Bräutigam, der ganz Esmes Schilderung entsprach, näher betrachtete, beschlich ihn das Gefühl, er müsse ihn kennen. Irgendwo hatte er den Mann schon gesehen. Wo nur? Wahrscheinlich damals, in den Wochen, ehe er nach Portugal ging. Aus der Zeit erinnerte er sich an wenig mehr als an Trinkgelage und den darauf folgenden Brummschädel.
Was hatte der Bursche wohl gesagt, um Esme so zu erschrecken, und wieso lief es ihm selbst bei dessen Anblick kalt den Rücken hinunter?
Als die Musik endete, führte Halverston seine Braut zur Terrasse am anderen Ende des Saales. Rasch schob St John sich durch die Gästeschar, um ihnen zu folgen, wobei er verwundert feststellte, dass nicht ein Gesicht in der Menge jünger als fünfzig war, die meisten sogar wesentlich älter. Hatte Esme keine gleichaltrigen Freunde, keine jüngeren Verwandten? Im Stillen hatte er gehofft, dass sie damals ihre Lage backfischhaft dramatisiert hatte, dass ihr zu lebhafter Geist ihren Vater dazu reizte, sie gewaltsam zu brechen. Doch offensichtlich war es schlimmer. Haughleigh gegen dies hier zu tauschen, war wohl, als kehrte man in ein Grabgewölbe zurück.
Aber nun hatte ihr Kummer ein Ende, noch heute Nacht, sobald er sie allein erwischte, würde er sie entführen. Wenn er nur ihren Blick einfangen könnte, ihr ein Zeichen geben … aber sie hatte nur Augen für ihren Bräutigam. Nur wirkte sie alles andere als glücklich. Wie sie aussah, wenn sie liebte, wusste er, denn er hatte sie glücklich gesehen …
Hatte man ihr eine Droge eingeflößt? Oder war sie nur schrecklich verängstigt? In diesem Moment traten die beiden auf die Terrasse hinaus, und die Gäste, die sich dort aufhielten, zogen sich ostentativ zurück, um dem Brautpaar ein paar Minuten allein zu gönnen. Da er den beiden nicht folgen konnte, ohne aufzufallen, musste er zwangsläufig abwarten. Hinter einigen Blumenkübeln verborgen, beobachtete Radwell Esme und den Earl durch die Scheiben. Eigentlich sollte sie von ihrem alten gebrechlichen Verlobten, der sich vielleicht noch einen Erben erhoffte, kaum etwas zu befürchten haben.
Jetzt redete der Earl auf sie ein, doch sie wirkte völlig abwesend, als hörte sie ihn gar nicht. Ihre Unaufmerksamkeit schien ihn zu verärgern, denn er fasste sie bei den Schultern, damit sie ihm das Gesicht zuwandte, während er weiter auf sie einsprach. Jetzt lauschte sie, doch sie riss angstvoll die Augen auf. Dann zog der Alte
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