Verführerische Unschuld
Tränen über die Wangen liefen. Als Grant die Hand ausstreckte und tröstend ihre Finger umschloss, zog sie ihre Hand nicht weg.
In weniger als eineinhalb Stunden kamen die Lichter von Casper in Sicht. Fünfzehn Minuten später waren sie im Krankenhaus, wo man ihnen riet, zu warten, bis Paddy aus dem Operationssaal gebracht wurde.
Caitlyn war von Natur aus nicht besonders geduldig. Sie rief ihre Mutter an und drängte sie, Frieden mit ihrem Mann zu schließen. “Bevor es zu spät ist”, flehte sie sie weinend an.
Zunächst folgte eine lange Stille, bevor Laura Leigh einen tiefen Seufzer ausstieß. “Wenn es dir so viel bedeutet, Liebes, werde ich darüber nachdenken.”
“Ich finde, es sollte dir auch sehr viel bedeuten, Mutter”, erwiderte Caitlyn und hängte auf. Wenn nicht einmal ein Notfall wie dieser das Herz ihrer Mutter rühren konnte, was dann?
Sie konnte sich unmöglich auf eine Bank setzen und in den Zeitschriften blättern, also leistete sie Grant Gesellschaft, der im Flur auf und ab ging. Nach einer Weile verschwand er kurz und kam mit zwei Plastikbechern Kaffee zurück.
Caitlyn nahm den Becher zwischen die Hände und ließ dankbar die Wärme auf sich wirken.
“Habe ich Ihnen davon erzählt, wie Ihr Daddy mir in einem kleinen Kaff namens Tea Pot Dome das Leben rettete?”, fragte Grant und setzte sich neben sie auf eine Bank.
Natürlich hatte er das nicht. Meistens hatten sie jedes Gespräch miteinander vermieden. Bis zu diesem Moment war keinem von ihnen der Gedanke gekommen, die Liebe zu Paddy als etwas zu betrachten, was sie miteinander verband.
Caitlyn musste feststellen, dass sie begierig war, alles über Paddy zu erfahren. Einige von Grants Geschichten waren lustig, andere rührend, aber in allen spiegelte sich die Liebe wider, die er für ihren Vater empfand. Sie bedauerte, dass sie ihn für einen Opportunisten gehalten hatte, und hörte ihm bedrückt zu, als er ihr erzählte, dass er Paddy zunächst für den Tod seines Vaters verantwortlich gemacht hatte.
“Und hat Ihre Mutter ihm auch die Schuld gegeben?”, fragte sie leise.
“Nein, sie beschuldigte Gott.”
Caitlyns Herz zog sich vor Mitleid zusammen. “Ist sie jemals darüber hinweggekommen?”
“Ich denke, jetzt hat sie Frieden mit Gott geschlossen.” Grants Miene wirkte plötzlich versteinert, seine Augen blickten kühl und abweisend.
“Ich verstehe nicht”, sagte Caitlyn verwirrt.
“Keiner tut das”, entgegnete er mit rauer Stimme. “Meine Mutter liebte meinen Vater so sehr, dass sie einfach nicht ohne ihn weiterleben wollte. Wenn sie sich nicht das Leben genommen hätte, wäre sie sicher an einem gebrochenen Herzen gestorben.”
Caitlyn hielt entsetzt den Atem an. Wie fürchterlich Grant gelitten haben musste! Sie war sekundenlang nicht fähig, etwas zu sagen. “Ich kann mir nicht vorstellen …” stammelte sie dann. “Es tut mir so leid.” Sie nahm seine Hand in ihre und hielt sie an ihre Wange. Ohne zu überlegen, küsste sie die schwielige Handfläche.
Die zärtliche Geste löste etwas Seltsames in Grant aus. Als sie ihn leise bat, fortzufahren, fing Grant zum ersten Mal in seinem Leben an, über seine Vergangenheit zu sprechen.
“Meine Tante Edna war die einzige lebende Blutsverwandte. Sie nahm mich bei sich auf und knöpfte mir jeden Cent ab, den ich verdiente, um ihn, wie sie mir weismachte, für mein Studium beiseitezulegen. Wer hätte auch geglaubt, dass eine so gottesfürchtige, selbstlose Frau heimlich mein Geld für sich selbst ausgeben würde?”
Caitlyn schüttelte ungläubig den Kopf. Es war kein Wunder, dass Grant immer so bitter reagiert hatte, wenn Caitlyn ihre Ausbildung erwähnt hatte.
“Als ich herausfand, was sie getan hatte, war ich wie eine wandelnde Zeitbombe, die jeden Moment losgehen konnte. Und damals, genau einen Tag nach meinem Highschool-Abschluss, tauchte ich bei Paddy auf, machte ihn für den Tod meines Vaters verantwortlich und verlangte von ihm eine Entschädigung für meinen Verlust.”
Caitlyn sah erstaunt, dass ein schwaches Lächeln Grants Lippen umspielte. “Ihr Vater hat mir den Kopf zurechtgesetzt. Damals wusste ich nicht, wie sehr sein Gewissen ihn quälte und dass ein schnodderiger Junge ihn nicht mehr für den Unfall hassen konnte als er sich selbst. Ich wusste auch nicht, dass Paddy durch den Unfall seine Familie verloren hatte. Ich wusste nur, dass er mir tatsächlich eine Chance anbot, etwas aus mir zu machen.”
Grant räusperte sich, bevor er
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