Verfuehrt
ich jemals getan habe.
9
Der Lancaster Ballroom im »Savoy« ist bereits voller Leute, als ich ankomme, und für einen Moment bleibe ich in der Tür stehen und lasse den Blick durch den außergewöhnlich schönen Raum gleiten. Die Kronleuchter erstrahlen vor den hellblau-weißen, stuckverzierten Wänden, werfen ein schmeichelndes Licht auf die festlich gedeckten, runden Tische, an denen die Gäste Platz finden sollen. Vor der Bühne, auf der sich die Musiker bereits mit ihren Instrumenten ihre Plätze suchen, ist eine größere Fläche als Tanzfläche reserviert – offenbar soll das wirklich ein rauschendes Fest werden. Was ich unter anderen Umständen auch sehr genossen hätte, denke ich wehmütig. Aber so …
»Sophie! Da bist du ja!« Sarahs Stimme lässt mich überrascht herumfahren, und dann umarmt sie mich auch schon, nur um einen Augenblick später zurückzutreten und mich anerkennend zu mustern. »Wow, du siehst unglaublich aus. Wo hast du denn dieses Kleid her?«
»Aus Rom«, sage ich ein bisschen verlegen und streiche über den roten, weich fallenden Chiffonstoff, der mir bis zu den Knöcheln reicht. Es war ein Spontankauf, weil es mir so gut gefiel, obwohl es lang und tief ausgeschnitten und eigentlich gar nicht mein Stil ist – ich trage sonst eher nüchterne Businesskleider in gedeckteren Farben, deshalb ist Sarahs Überraschung nicht verwunderlich. Ich weiß selbst nicht, warum ich mich heute ausgerechnet für dieses entschieden habe. Vielleicht, weil das »Savoy« so fein ist und es deshalb gut passt. Oder weil es mich an Matteo erinnert, denn als ich es das erste Mal trug, in Rom, bin ich ihm in diesem Kleid in die Arme gefallen. So habe ich ihn an jenem Abend kennengelernt, und ich kann mich immer noch nicht entscheiden, ob das gut oder schlecht war.
»Du siehst ganz verändert aus darin«, findet Sarah, die selbst ein wundervolles blaues Satinkleid mit Bolerojäckchen trägt, das ihre dunkelblauen Augen besonders gut zur Geltung bringt. Suchend sieht sie sich um. »Und? Wo ist Matteo?«
Irritiert schüttele ich den Kopf. »Ich habe dir doch gesagt, dass er nicht mitkommen wollte.«
»Ja, ich weiß. Aber ich dachte, er überlegt es sich vielleicht noch«, erklärt Sarah in ihrem unerschütterlichen Optimismus. »Und was ist mit unserem allzeit bereiten Nigel? Der wäre doch sicher gerne eingesprungen.«
»Ich habe ihn aber nicht gefragt.« Was nicht nur daran liegt, dass mir die Gelegenheit dazu gefehlt hat. Ich hatte viel zu tun in der Woche, und das habe ich auch als Vorwand genutzt, um Nigel aus dem Weg zu gehen. Aber selbst wenn ich ihm öfter begegnet wäre, hätte ich ihn nicht eingeladen, mich zu begleiten. Mein Verhältnis zu ihm hat sich einfach verändert, ich kann seine Freundschaft nicht mehr so annehmen wie früher, weil mir bewusst geworden ist, dass ich die Erwartung, die bei ihm dahinter steckt, wahrscheinlich nie erfüllen kann.
»Siehst du, jetzt wirst du doch noch vernünftig«, sagt Sarah schmunzelnd, und ich erwidere ihr Lächeln. Vernünftig kann ich meine Entscheidung zwar nicht finden, aber es ist vermutlich wirklich ehrlicher, Nigel nicht zum Lückenbüßer zu machen. Irgendwann versuche ich es vielleicht noch mal, zu unserer alten Beziehung zurückzufinden, und unter Umständen kann ich mich ihm dann eines Tages anders öffnen als jetzt. Doch im Moment hätte das gar keinen Zweck, dafür beherrscht Matteo meine Gedanken und Gefühle viel zu sehr.
Seit dem Morgen nach dem Sturm habe ich ihn weder gesehen noch gesprochen, weiß nur von Dad, der mehrfach mit ihm telefoniert hat, dass er vorankommt mit der Expertise und fast die ganze Zeit in Ashbury Hall ist. Mehr nicht – und das zermürbt mich ziemlich, weil ich trotzdem ununterbrochen an ihn denken muss. Aber nicht heute, beschließe ich. Heute werde ich mich von der Feier ablenken lassen. Sonst werde ich noch wahnsinnig.
»Wo ist denn Grace?«, frage ich Sarah, weil ich die Hauptperson dieses Abends gerne begrüßen möchte.
Sarah deutet in Richtung Bühne. »Sie steht mit Jonathan da vorn, siehst du? Bei den Leuten von der London Business Association, die ihr den Preis verleihen werden. Aber geh ruhig hin, ich glaube, sie ist froh, wenn du sie da mal rausholst«, erklärt mir Sarah.
»Und was machst du?« Eigentlich hatte ich gehofft, dass sie mitkommt.
»Ich geh noch mal runter in die Empfangshalle und warte auf Alex und meinen Vater. Sie müssten gleich eintreffen.« Sie lächelt strahlend. »Aber dann
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