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Verfuehrt

Verfuehrt

Titel: Verfuehrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathryn Taylor
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bestürmt, weil er dadurch gezwungen ist, mich wieder loszulassen.
    Es dauert ein bisschen, aber schließlich erreichen wir den Flur im ersten Stock, wo sein Büro liegt. Es ist klein und eher muffig, ein typisches Uni-Büro, das so gar nicht zu Matteos sonstigem Lebensstil passt. Das scheint ihn jedoch überhaupt nicht zu stören, denke ich nicht zum ersten Mal, während ich in der Tür stehe und ihm dabei zusehe, wie er an seinem Schreibtisch die Post durchsieht, die für ihn gekommen ist.
    Er ist einfach gerne hier, das Unterrichten bedeutet ihm etwas, überlege ich, und mir wird wieder klar, dass seine Arbeit tatsächlich ein ganz wichtiger Teil seines Lebens ist. Wie hatte er am Anfang mal zu mir gesagt? Ich hätte auch Kunstgeschichte studiert, wenn meine Familie keinen Cent besäße . Er hätte seinen Weg auch so gemacht …
    »Signore Bertani?« Ein älterer, ziemlich korpulenter Mann steht vor der offenen Tür und klopft vorsichtig an den Türrahmen. »Könnte ich Sie kurz sprechen?«, fragt er auf Italienisch.
    »Umberto!« Matteo freut sich sichtlich, ihn zu sehen und geht sofort zu ihm, umarmt ihn herzlich und erkundigt sich, was er möchte. Es ist jedoch offensichtlich etwas, das nur er hören darf, denn der beleibte Umberto sieht mich unsicher an und bittet ihn dann, kurz mitzukommen.
    Matteo entschuldigt sich bei mir, und die beiden verschwinden auf dem Flur, lassen mich allein. Und weil ich sonst nichts anderes zu tun habe, beschäftige ich mich damit, mir Matteos Büro noch einmal anzusehen.
    In den Regalen stehen Ordner mit Unterlagen, aber auch Bücher, meist Bildbände und Abhandlungen über die Renaissance, Matteos Spezialgebiet, von denen ich mir einen herausnehme und ansehe. Dann jedoch fällt mein Blick auf seinen Schreibtisch, und ich stutze, als ich mir plötzlich selbst ins Gesicht sehe. Schnell stelle ich das Buch zurück und trete an den Schreibtisch. Auf der rechten Seite liegt ein Stapel mit Zeichnungen. Eines der unteren Blätter ist ein Stück herausgerutscht, und darauf ist eindeutig mein Kopf abgebildet.
    Neugierig ziehe ich es ganz heraus und keuche überrascht auf, als ich erkenne, dass ich auf der Zeichnung nackt bin. Aber natürlich, denke ich dann – das ist eins der Bilder, die Matteos Zeichenklasse von mir gemalt hat, als ich als Aktmodell eingesprungen bin. Mit einem verträumten Lächeln erinnere ich mich daran, was nach der Sitzung passiert ist, und fange an, den Stapel durchzusehen, weil ich die Ergebnisse – bis auf zwei – nie zu Gesicht bekommen habe.
    Sie sind tatsächlich alle da, und während ich sie betrachte, habe ich das komische, aber sehr interessante Gefühl, mich selbst durch die Augen eines Fremden zu sehen. Jeder Schüler hat eine eigene Herangehensweise gewählt, eine eigene Perspektive, eine eigene Technik, und ich bin wirklich beeindruckt.
    Das Letzte allerdings ist anders und so gut, dass ich es nur überrascht anstarren kann. Es zeigt nicht mich, sondern Matteo, wie er vor dem Fenster oben in seinem Atelier in der Villa steht. Ich kann mich daran erinnern, dass er das während der Sitzung getan hat, genau in dieser Haltung, die Arme vor der Brust verschränkt. Auch das Henley-Shirt erkenne ich, das er an dem Tag getragen hat. Und sein Gesicht ist – atemberaubend detailgetreu. Es ist wie ein Foto, nur mit mehr Tiefe, spiegelt seine Gefühle, während er sehr konzentriert auf etwas blickt. Etwas, das seine gesamte Aufmerksamkeit fesselt und das ihm viel wert ist. Denn auf seinem Gesicht liegt ein weicher Ausdruck und seine Augen strahlen, drücken gleichzeitig Bewunderung und Begierde aus und auch noch etwas anderes – etwas Primitiveres, Besitzergreifendes, das mir den Atem nimmt.
    Denn als Matteo an dem Atelierfenster stand, ruhte sein Blick auf mir. Der Signatur nach ist dies das Bild von Matteos Nichte Adriana. Er hat mir erzählt, dass sie ein großes Zeichentalent hat und dass er sie deshalb an dem Kurs teilnehmen lässt, doch dass sie so gut ist, habe ich nicht geahnt. Jetzt erinnere ich mich auch, dass Matteo ihr Bild besonders lange und besonders kritisch betrachtet hat, und dass sie ihn später provozierend gefragt hat, wie er ihren Ansatz findet. Das muss ihn tatsächlich gewundert haben, und nicht ohne Grund, damit hat sie ihn ziemlich herausgefordert. Denn wenn das nicht Adrianas künstlerische Freiheit war und er wirklich damals schon so geguckt hat, dann …
    Ich höre Schritte auf dem Flur, Matteo hat sein Gespräch offenbar beendet

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