Verführt: Roman (German Edition)
vernichtender, als einfach einen Fremden geküsst zu haben. Sie würde Gerard mit seiner aufreizenden Selbstgefälligkeit nicht auch noch den Gefallen tun und zugeben, dass sie sich eingebildet hatte, ihn zu küssen.
Sein Bruder löste sich dankenswerterweise von ihrem hingestreckten Körper. Lucy setzte sich auf, zog die Knie hoch und versuchte vergeblich, ihr zerzaustes Haar in Ordnung zu bringen.
»Ich nehme alle Schuld auf mich, Bruderherz«, bot der Kerl großzügig an. »Einem hübschen Mädchen im Mondlicht hab ich noch nie widerstehen können.«
Gerard runzelte die Stirn. »Du hast keinem Mädchen in was für immer einem Licht je widerstehen können. Muss ich dich erst daran erinnern, dass diese spezielle Schönheit hier dich als Captain Dooms zeitweilige Vertretung identifizieren kann? Warum glaubst du, habe ich dich in die Folterkammer gesperrt?«
»Du weißt genauso gut wie ich, dass das Schloss, das ich nicht knacken kann, noch nicht erfunden worden ist. Wenn dem nämlich so wäre, würdest du immer noch auf Santo Domingo verrotten.«
»Während dich inzwischen irgendein eifersüchtiger Ehemann erschossen hätte«, entgegnete Gerard.
So wie die beiden sich stritten, hatten sie darin weit reichende Erfahrung. Lucy schaute gebannt von einem zum anderen und musste ihre Entdeckung erst einmal verdauen.
Jetzt, da sie beide standen, wurden die Unterschiede augenfällig. Gerard war muskulöser als sein Bruder, während dieser Lucy an einen schlaksigen jungen Hund erinnerte. Sein Haar war eine Nuance heller als das Gerards und seine Augen eher grün als braun. Aus den fehlenden Augenfältchen zu schließen, musste er an die zehn Jahre jünger sein als sein Bruder.
»Hat er auch einen Namen?«, warf Lucy ein, als die beiden gerade eine Pause einlegten.
Worauf Gerard mit seinem vernichtenden Sarkasmus auf Lucy zielte. »Das hätten Sie vielleicht fragen sollen, bevor Sie sich glückselig in seine Arme geworfen haben.«
Bevor sie antworten konnte, drückten sich schon ein paar warme Lippen auf ihre Hand. »Gestatten … Kevin …« Er zögerte und warf seinem Bruder einen entsetzten Blick zu.
»Doom?«, ergänzte Lucy trocken.
»Claremont!«, kläffte Gerard.
»Kevin Claremont, meine Liebe, zu Ihren untertänigsten Diensten.«
Hätte sie ihn nicht im Verdacht gehabt, sich jedweder Frau mit solcher Inbrunst anzudienen, Lucy wäre geschmeichelt gewesen. Hinter ihm sah sie, wie Gerard tonlos ihre unausweichliche Antwort herunterbetete: »Meine Freunde nennen mich Lucy, aber Sie dürfen mich mit Miss Snow …« Sie schenkte dem jungen Claremont ein hinreißendes Lächeln und flötete: »Lucy.«
Gerard warf ihr über Kevins Schulter einen Blick zu, mit dem man hätte Diamanten schneiden können.
Kevin zog mit üppigen Lippen einen Flunsch. »Verdammt unsportlich von dir, dir so eine Schönheit an Bord zu schmuggeln, nachdem du so gemein warst, in Dover meine kleine Schauspielerin des Schiffs zu verweisen.«
»Sie war keine Schauspielerin, sie war eine Prostituierte«, stellte Gerard klar. »Du kannst doch nicht im Ernst geglaubt haben, dass ich sie für deinen Kabinensteward halte.«
Lucy erhob sich und begutachtete neugierig Kevins rotblonden Zopf. »Eigenartig, aber ich glaube, ich kenne Sie, Sir.«
Gerard schnaubte. »Das sollten Sie auch. Sie haben die Berichte über seine absurden Schandtaten aus der Zeitung ausgeschnitten, während ich auf Iona festsaß. Ich hatte Glück, dass es überhaupt noch ein Schiff gab, auf das ich zurückkehren konnte.«
»Cäp’n Doom!«, rief Lucy wie einst Gilligan. »Sie sind der Kerl vom Maskenball der Howells. Der mit dem grässlichen Kostüm.«
Kevin schlug die Hand aufs Herz. »Das trifft mich zutiefst, holde Lady. Und ich hatte mich für so schneidig gehalten.«
»Subtilität war nie die Stärke meines kleinen Bruders. Die Idee, auf meinem Schiff eine voll funktionstüchtige Folterkammer einzubauen, ist auch von ihm.«
Bevor sie noch reagieren konnte, hatte Kevin sie schon untergehakt und zur Seite gezogen. »Und Gastfreundschaft war nie die Stärke meines großen Bruders. Er vernachlässigt Sie schändlich, wie ich gehört habe.« Er warf seinem Bruder einen strafenden Blick zu. »Den Männern, die die Vergnügungen der Jugend allzu schnell hinter sich lassen, fällt es manchmal recht schwer, zu begreifen, wie leicht wir uns langweilen.«
Gerard machte den Mund auf, klappte ihn schnell wieder zu und biss die Zähne zu einem säuerlichen Lächeln
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