Verführt: Roman (German Edition)
wieder, unfähig zwischen Schatten und fester Substanz zu unterscheiden und kein bisschen näher an des Rätsels Lösung, was den mysteriösen Captain Doom anging.
War er der Mann, der geschworen hatte, ihr Leben sei ihm so teuer wie seins? Der Mann, der sie zärtlich, geduldig und ungestüm beschützte? Oder war er der Mann, der einzig und allein auf Rache aus war, zynisch und jähzornig? Zum ersten Mal überhaupt erwog ihr verwirrtes Herz die Möglichkeit, dass diese beiden unterschiedlichen Männer ein und dieselbe Person waren.
Seine Männer schienen seine beiden Seiten zu verehren und von Herzen zu mögen. Er hielt mit eiserner Faust und Gewitztheit die Disziplin aufrecht, doch beschnitt er ihnen nur selten die Freiheit, die sie so schätzten. Während sich die Furcht erregende Reputation des Admirals an der Zahl der Striemen bemaß, die er seiner Mannschaft auf den Rücken peitschen ließ, waren Gerards Drohungen für den Fall, dass jemand die Gesetze der Retribution verletzte, wirklich nur das – Drohungen. Seine Männer respektierten ihn viel zu sehr, als dass sie die Grenzen seiner Geduld strapaziert hätten. Sie schienen sein Lob mehr zu schätzen, als sie seine Strafen fürchteten.
Es waren Männer, deren Loyalität nicht leicht zu erringen war. Doch Lucy hatte während der letzten Tage feststellen können, dass kein einziger Mann an Bord nicht sein Leben gegeben hätte, wenn der Captain es verlangte.
Aber sie schien die Einzige an Bord zu sein, die wusste, dass er seinen Männern genau dieses Opfer niemals abverlangen würde.
Lucy, wissen Sie eigentlich, was es für einen Kapitän bedeutet, seine eigene Mannschaft zu überleben?
Lucy war erschöpft davon, sich über die Gegenwart den Kopf zu zerbrechen, schloss die Augen und schwelgte im Nebel der Erinnerungen. Gerard blies ihr einen Ring aus Rauch ins Gesicht, während seine Augen argwöhnisch hinter Pudges Binokel blitzten. Mit dem kleinen Finger tupfte er ihr eine Spur Zimtpulver von der Unterlippe. Seine Hand lag kraftvoll auf ihrem Rücken, als er sie in die nächste Drehung des Walzers wirbelte.
Lucy war so verzückt von den Bildern in ihrem Kopf, dass sie nicht einmal überrascht war, als Gerard sich über sie beugte. Ihr träumerischer Hunger nach diesem Mann war so groß, dass sie seiner bartlosen Wangenkontur einfach mit den Fingerspitzen folgen musste.
Sie blinzelte und verlor sich im Nebel der Konfusion. Ein Traum, fürwahr. Denn das hier war ein anderer Gerard. Ein Gerard, dem Zeit und Desillusionierung nichts hatten anhaben können. Ein Gerard, dessen strahlende Augen kein Zynismus überschattete. Es mussten ihre eigenen Schuldgefühle sein, die sie diese Gestalt hatte erschaffen lassen. Dies hier war der Gerard, der er hätte sein können, wäre da nicht die Heimtücke ihres Vaters gewesen.
Sie hatte weder den Willen noch die Kraft, sich ihm zu widersetzen, als sein schön geschwungener Mund sich auf den ihren senkte. Ihre Lippen öffneten sich willig einem Kuss, der berauschend war, kunstvoll und provokativ.
Und vollkommen falsch.
Er küsste sie mit der Meisterschaft eines Künstlers, der zahllose Stunden darauf verwandt hatte, seine Technik zu perfektionieren, doch seinem Kuss fehlte die schwer zu fassende Würze der Reife. Er war wie der milde Frühlingsregen, der auf die englischen Landschaften fiel, nicht wie der wilde, gefährliche Sturmwind auf See, und er ließ Lucy mit einem sonderbaren, völlig ungerührten Gefühl zurück.
Sie schlug entsetzt die Augen auf, als eine herbe, aber vertraute Stimme erklang.
»Ich hatte natürlich vor, Sie eines Tages auch meinem Bruder vorzustellen, Miss Snow, aber wie ich sehe, haben Sie beide sich schon bekannt gemacht.«
24
Lucy schaute verblüfft zwischen den beiden Männern hin und her.
Gerard lehnte achtern an der Reling, und die angespannten Muskeln seiner verschränkten Arme straften seine lässige Haltung Lügen. Der andere Mann beugte sich über sie, mit einem unverschämten Grinsen im Gesicht und einem teuflischen Grübchen auf der linken Wange.
Wieder packte Lucy der Horror. Sie schlug mit der Faust auf seine Schulter ein. »Runter von mir, Schuft! Wie können Sie es wagen, sich derartige Freiheiten herauszunehmen?«
»Nur nichts überstürzen, Lucy«, tadelte sie Gerard. »Sie haben durchaus so ausgesehen, als hätten Sie Ihren Spaß gehabt.«
»Aber doch nur, weil ich dachte -«. Lucy biss sich auf die verräterische Zunge. Was sie im Sinn gehabt hatte, war noch
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