Verführt: Roman (German Edition)
aufeinander. »Wenn Sie mich entschuldigen würden, Miss Snow, ich langweile mich allzu schnell in meiner Senilität. Ich denke, ich überlasse …« Er betrachtete angelegentlich Lucys Lippen, die noch immer feucht von den unerbetenen Küssen seines Bruders glänzten. »Ich denke, ich überlasse euch Kinder lieber euren Vergnügungen.« Er straffte die Schultern und verschwand in der Dunkelheit.
Lucy wand sich in Kevins Griff und wollte Gerard hinterherlaufen. »Lassen Sie mich gehen. Ich …«
»Oh nein«, flüsterte Kevin entschieden. »Er hat mich so lange nicht ernst genommen, bis ich endlich damit aufgehört habe, ihm ständig hinterherzurennen. Die Mannschaft bewundert ihn ohnehin schon mehr als genug. Von uns beiden braucht er etwas ganz anderes.«
Erstaunt über seine seltsame Eröffnung, hörte Lucy zu zappeln auf. Dann blickte sie in seine strahlenden braungrünen Augen und wusste auf einmal, dass sie den lang gesuchten Freund gefunden hatte, von dem sie gar nicht gewusst hatte, wie sehr sie ihn brauchte.
Der Ausguck auf dem Fockmast war für Gerard Claremont kein sicherer Zufluchtsort mehr. Lucy dabei zu beobachten, wie sie allein übers Schiff stromerte, war qualvoll genug gewesen. Ihr zuzusehen, wie sie in Begleitung seines Bruders übers Schiff stromerte, stürzte ihn in namenlose Agonie. Die beiden blonden Schöpfe zusammengesteckt zu sehen, das sorglose Gelächter über den Wind schallen zu hören, als lachten sie über einen Witz, den nur sie beide verstanden – es war unerträglich.
Er war sich seiner einunddreißig Jahre nie so bewusst gewesen und hatte nie so bitter die verlorenen Jahre bereut. Nicht verlorene, rief er sich bitter ins Gedächtnis, gestohlene Jahre.
Und während dieser Jahre war der plumpe kleine Bruder, der Gerard so angebetet hatte, seinen Babyspeck losgeworden und hatte seine schurkischen Talente vervollkommnet. Er hatte das Geld genommen, das Gerard gewissenhaft für seine Ausbildung zur Seite gelegt hatte. Er hatte getrunken und gespielt und sich in die Gesellschaft der reichsten, berühmt-berüchtigtsten Lebemänner Londons geschlichen. Mit seinem untrüglichen Sinn für Zahlen und seinem perfekten Gedächtnis für Karten hatte er die Wagemutigsten von ihnen um ihr Vermögen gebracht und nur darauf gewartet, dass ihm das Schicksal einen trunkenen Aufschneider an den Spieltisch setzen würde, der über den Verbleib seines großen Bruders Bescheid wusste.
Nach drei Jahren voller Ausschweifungen hatte ihm Fortuna Lucien Snow in die Hände gespielt. Der scharfsinnige Kevin hatte nicht lange gebraucht, um zu begreifen, dass zwischen seinem Bruder und dem Geprahle des Admirals, einen gewissen Captain Doom um seine Beute gebracht zu haben, ein Zusammenhang bestand.
Kevin hätte Snow damals am liebsten auf der Stelle gefordert. Doch er hatte befürchten müssen, dass der Admiral genug Einfluss besaß, Gerard in ein anderes Gefängnis verlegen oder umbringen zu lassen, falls er von einem Rettungsversuch Wind bekam. Also hatte er sich schlicht verabschiedet, seinen Gewinn zusammengepackt und war nach Santo Domingo gesegelt, um seinen Bruder zu finden.
Gerard erinnerte sich kaum an die ersten, dunklen Tage nach seiner Befreiung. Er erinnerte sich an Kevins freundliche, aber unerbittliche Hände, die ihm immer wieder Wasser die Kehle hinunterschütteten, an Kevins Stimme, die vertraut geklungen hatte, aber viel tiefer, als sie hätte klingen können. Kevin hatte das heruntergekommene Wrack von einem Mann, zu dem Gerard geworden war, zum Überleben gezwungen, bis schließlich jene Rachsucht in ihm erwacht war, die ihm neue Kraft zum Leben gegeben hatte.
Was es doppelt schwer machte, spät am Abend übers Hinterdeck zu schlendern und dabei auf Lucy zu stoßen, wie sie gerade Hof hielt – mit Kevin als Kronprinzen.
Nach acht mussten alle Laternen gelöscht sein, aber ein nebelverhangener Mond tauchte das Deck in silbriges Licht. Lucy saß im Kreis der Männer, flankiert von Kevin und Tam.
Gerard näherte sich mit der behänden Anmut, für die er bekannt war, und hielt knapp vor dem fröhlichen Zirkel im Schatten inne. Es war schon schlimm genug gewesen, in London aus Lucys Leben ausgeschlossen zu sein, aber hier, an Bord seines eigenen Schiffs, war es unerträglich. Er hätte sie am liebsten an diesen lächerlichen Zöpfen gepackt, sie in seine Kajüte geschleift und ihr in der unmissverständlichsten Weise überhaupt zu verstehen gegeben, wer auf diesem Schiff der Herr
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