Verführt: Roman (German Edition)
öffnete er die Tür und schlich sich in die unheilvolle Stille. Wie erwartet, war das Bett leer und die Decke unberührt, als wäre ihr Besitzer zu früh aufgestanden oder gar nicht erst zurückgekehrt.
Lucy stand am Bullauge, wieder in Tams abgelegte Sachen gehüllt und die seidigen Haare zu zwei perfekten Zöpfen geflochten. Sie schaute unverwandt zum reglosen Gespenst der Argonaut hinüber. Nirgendwo eine Faser von dem wundervollen Kleid und keine Spur von der bezaubernden Frau, die ihn letzte Nacht mit solcher Herzlichkeit willkommen geheißen hatte. Gerard stockte ob des schmerzlichen Verlusts der Atem.
Er räusperte sich, was ihm schwerer fiel, als er sich eingestanden hätte. »Ich muss dich heute Nacht in deinem Quartier einschließen. Zu deinem eigenen Besten.«
Er hätte auch zu einer Statue sprechen können. Oder einer Skulptur aus Eis. Er kämpfte gegen einen irrationalen Anflug von Wut.
Er warf das Tagebuch ihrer Mutter so achtlos auf den Tisch, wie er es nie zuvor behandelt hatte. »Ich dachte, das hilft dir eventuell, die Zeit zu überbrücken. Ich habe es in der Schatulle deines Vaters gefunden«, sagte er. »Ich habe es nicht gelesen«, setzte er noch hinzu, obwohl er wusste, dass sie ihm nicht glauben würde.
Ihre eisige Haltung schmolz in keinster Weise. Gerard fühlte seine Zehen schon beinahe vor Frostbrand prickeln. Er konnte nicht widerstehen, spöttisch hinter ihrem unbeweglichen Rücken zu salutieren. »Guten Tag, Miss Snow.«
Er war fast schon an der Tür, als ein leises Flüstern kam: »Gleichfalls einen guten Tag … Captain.«
Als er den Bolzen vor die Tür schob, der Lucy wieder zu seiner Gefangenen machte, hoffte er nur noch, dass er den Admiral so gut bluffen konnte, wie es ihm mit dessen Tochter schon gelungen war.
Lucy stand noch lange Zeit, nachdem Gerard gegangen war, müde am Bullauge. In stumpfsinnigem Elend sah sie zu, wie die Morgendämmerung ihre glimmenden Fäden über den Horizont spannte, und hasste den Sonnenaufgang für seine Schönheit.
Im Morgengrauen gleicht die See einer Kathedrale, Lucy.
Die rauchige Wärme seiner Worte erweckte Erinnerungen zum Leben, die besser begraben geblieben wären.
»Heuchler!«, murmelte sie.
Falls die See eine Kathedrale war, dann war Gerard nur allzu willens, sie auf dem Altar dieser Kathedrale zu opfern.
Ihr verräterisches Herz tat einen Sprung, als sie aus dem Augenwinkel ein Beiboot entdeckte. Aber Gerard würde sicherlich nicht so dumm sein, das verfluchte Sendschreiben selbst zu überbringen.
Ihr Herz beruhigte sich wieder. Bei jedem rhythmischen Schlag der Ruder blitzten die neugeborenen Sonnenstrahlen über Digbys kahlen Schädel. Er drehte ein wenig bei, um der Retribution fröhlich zuzuwinken, und verabschiedete sich mit einem zahnlosen Lächeln. Lucy hätte ihn am liebsten vom Deck aus angefeuert. Die dünnen Arme des ältlichen Kanoniers trieben das schwerfällige Boot mit erstaunlicher Geschwindigkeit voran und durchs tiefblaue Wasser direkt auf die Argonaut zu. Eine Möwe tanzte über Digbys Kopf, was Lucy zu der erstaunlichen Erkenntnis brachte, dass das Land nicht weit entfernt sein konnte.
Als das kleine Beiboot längsseits der Argonaut ging und vom Schatten des mächtigen Kriegsschiffes geschluckt wurde, drehte sich Lucy fröstelnd vom Bullauge weg.
Ihr rastloser Blick entdeckte das samtgebundene Buch auf dem Tisch. Sie zögerte und weigerte sich, Gerards Mitbringsel auch nur eine Spur von Enthusiasmus entgegenzubringen. Wenn Gerard das Buch in der Schatulle ihres Vaters gefunden hatte, dann enthielt es vermutlich nur detaillierte Aufzeichnungen über die Karriere des Admirals und vielleicht ein paar eingestreute Zeitungsartikel, die seine militärischen Errungenschaften unsterblich machen sollten. Sie staunte, wie sehr sie die Selbstgefälligkeit ihres Vaters auf einmal verabscheute.
Dann setzte die angeborene Neugier sich durch. Sie fuhr mit dem Finger über den von Stockflecken verunzierten Samteinband. Ein schwaches Prickeln ließ ihr die Nackenhärchen zu Berge stehen. Sie schlug das Buch auf. Die Seite war am oberen Rand des Blatts auf den 26. Mai 1780 datiert. Lucy runzelte die Stirn. Die unverhohlene Femininität der flüssigen Handschrift, die so ganz anders war als ihre eigene, befremdete sie.
»›Ich schreibe dies auf Englisch‹«, las sie laut. »›Weil ihm das Freude bereiten würde und ihm Freude zu bereiten mein einziger Wunsch ist, meine einzige Sehnsucht, die einzige Obsession,
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