Verführt: Roman (German Edition)
und erwartete brav ein Lob.
Claremont wippte auf den Absätzen und blinzelte das Bild an. »Ich frage mich, ob Sie das Meer überhaupt je gesehen haben.«
Lucy durchbohrte ihn mit ungläubigem Blick. Aber da war kein Anflug von Spott oder Ironie in seinem Gesicht. Dieses eine Mal schien es ihm völlig ernst zu sein. Sie wollte ihn nicht merken lassen, dass seine Meinung ihr etwas bedeutete, aber ganz konnte sie nicht verbergen, wie gekränkt sie war.
Sie legte den Kopf schief und betrachtete das Seestück aus allen Richtungen. »Es gefällt Ihnen also nicht?«
Er schüttelte den Kopf. Lucy entspannte sich ein wenig und wartete darauf, dass er ihr verwundetes Ego wieder aufrichtete.
»Ich verabscheue es!« Sie wusste nicht, wie sie sich hätte verteidigen sollen, so vehement, wie Claremont reagiert hatte. Er beugte sich über ihre Schulter und zeigte mit dem Finger auf das Bild. »Oh, technisch ist es sehr gut. Sie haben das Licht stimmig eingefangen und die meisten der Farben auch.« Seine Stimme nahe an ihrem Ohr wurde tief und sanft. Sein warmer Atem bewegte die kleinen Härchen an ihrer Schläfe. »Aber es hat nicht die Spur von Leben. Nicht eine Unze Leidenschaft.«
Unfähig, dem verführerischen Timbre seiner Stimme zu widerstehen, wanderte ihr Blick zu seinem Profil, dessen Konturen das Mondlicht silbern nachzeichnete. Das launenhafte Licht machte seine bernsteinfarbenen Augen jadegrün. Wenn Lucy ihn in jenem Moment hätte zeichnen können – er hätte es nicht mehr gewagt, sie leidenschaftslos zu nennen.
Er holte mit dem Arm aus und malte ihr ein Bild, das lebendiger war als alles, was Wasser und Farbe vermochten: »Im Morgengrauen gleicht die See einer Kathedrale, Lucy.«
Ihr stockte der Atem, ihren Namen wie Musik über seine Lippen kommen zu hören.
»In einer Schlacht, die seit aller Ewigkeit tobt, erobert das Licht die Dunkelheit. Die Sonne zu sehen, wie sie die ersten glimmenden Fäden über den Horizont webt, ist wie eine Aufforderung zum Gebet. Ein Ruf, auf die Knie zu fallen, dem Zynismus abzuschwören und daran zu glauben, dass eine Welt, die so korrupt ist wie die unsere, reingewaschen werden kann vom Schlag der Wellen gegen den Sand.«
Lucy wagte nicht zu atmen. Längst hatte sie sich damit abgefunden, der Liebe nicht wert zu sein. Aber jetzt saß ein schmerzender Kloß in ihrer Kehle – ein Knoten aus Verlangen und Eifersucht, dass ein Mann etwas so sehr lieben konnte wie Claremont die See. Sie hatte gehofft, ihr Leibwächter würde ihr die Einsamkeit erträglicher machen, aber er hatte sie nur noch schlimmer gemacht, ihr schartige Kanten gegeben.
Draußen vor dem Fenster tauchten die Laternen der Kutsche auf und blinkten zwischen den Bäumen auf, während das Gefährt die kurvige Auffahrt heraufkam. Das fremdartige Gefühl ängstigte Lucy mehr als die Rückkehr ihres Vaters. Sie riss sich aus Claremonts Bann und raffte ihre Malutensilien zusammen.
Dann zerrte sie das Bild von der Staffelei und klemmte es unter den Arm. »Für jemanden, den das Meer seekrank werden lässt, haben Sie eine erstaunlich poetische Zuneigung zur See entwickelt.«
Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Ein durchaus alltägliches Phänomen, Miss Snow. Finden wir insgeheim nicht alle genau das anziehend, was uns am meisten gefährdet?«
Um seinen Mund spielte ein spöttischer Zug, aber der war Lucy längst vertraut. Es war die düstere Kampfansage in seinem Blick, die sie ohne Staffelei aus der Bibliothek stürzen ließ, zurück in die friedliche Oase ihres Schlafzimmers.
Am nächsten Abend musste Gerard zu seiner großen Enttäuschung feststellen, dass er Miss Snow zu einer Abendgesellschaft bei Lady Cavendish zu begleiten hatte. Er betrachtete die Regentropfen, die die geschliffenen Kanten der bleiverglasten Fenster hinuntertanzten, während er in der Eingangshalle auf sie wartete. Das melancholische Geprassel machte ihm Lust auf eine Zigarre. Im Salon und in der Bibliothek hatten die Diener die Kamine geheizt, aber im Foyer war schon die Kälte des nahenden Winters zu spüren.
Gerard jedenfalls spürte ihn kommen. Die Tage wurden ihm zu kurz, die Nächte zu lang. Diese unausweichliche Dunkelheit – er wäre am liebsten weit fort gewesen, wenn sie England erreichte. An einem sicheren Ort, wo es immer warm war, wo der Regen die Bäume ergrünen ließ, anstatt sie mit unerbittlichen Fingern zu entblättern.
Leichtfüßige Schritte holten ihn in die kalte Realität zurück. Er drehte sich um und
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