Verführt: Roman (German Edition)
Beleidigung ließ Lucy hochfahren, ihre Angst vergessen und all ihren Stolz zusammennehmen. »Ihre Kündigung kann nicht akzeptiert werden, Mr. Claremont. Sie sind entlassen!«
Er verschwand um die Straßenecke.
Lucys Freude darüber, das letzte Wort gehabt zu haben, schwand so schnell wie ihr Elan. Einsam und verlassen sank sie am Ende der Gasse zusammen. Seit sie Vaters Brieföffner in Dooms arglose Schulter gerammt hatte, war ihr nicht so elend gewesen. Ihr war, als hätte sie nicht nur einem anderen Menschen Leid zugefügt, sondern sich auch selbst eine tödliche Wunde beigebracht.
Eigentlich hatte sie Grund zum Feiern, redete sie sich zornig ein. Das war es doch, was sie die ganze Zeit über gewollt hatte. Claremont loswerden. Ihn so weit zu bringen, dass er kündigte und sie ihre heiß geliebte Unabhängigkeit zurückbekam. Ihr Privatleben. Ihre Einsamkeit.
Sie drehte das Gesicht zur Wand und entdeckte zu spät, dass Claremonts Gleichgültigkeit leichter zu ertragen gewesen war als seine Abwesenheit.
Ausgerechnet diesen Moment suchte der dräuende Himmel sich aus, ihr eine Ladung Eisregen über den Kopf zu kippen. Mit kalten Zähnen bissen sich die Tropfen durch ihr dünnes Cape und durchnässten gnadenlos ihren Ausgehstaat. Lucy war dermaßen mit ihrem eigenen Elend befasst, dass sie gänzlich blind war für die bedrohlichen Gestalten, die jetzt aus dem Schatten gekrochen kamen.
»Bist deinen feinen Herrn wieder los, Mädel?«
Lucy riss den Kopf herum und sah sich einem Mund voller schwarzer, zerbrochener Zähne gegenüber. Sie wich vor dem stinkenden Atem des Kerls zurück, zwinkerte sich den Regen aus den Augen und machte zwei schmutzige, zerlumpte Männer aus.
Der Zweite, dessen langem, schmierigem Haar der Regen keinen Abbruch mehr tun konnte, gluckste sie mitleidig an: »Nu’ sei nicht traurig, Mädchen. Wir ham’ vielleicht nich’ so viel Geld wie der feine Kerl, aber wir wissen, was’ner Dame Spaß macht.«
Noch vor ein paar Sekunden war Lucy sicher gewesen, den Tiefpunkt ihres Lebens erreicht zu haben. Sie hatte ihr ganzes Leben der Wahrung äußerster Schicklichkeit gewidmet, und nun hielt man sie für eine der Dirnen der tristen Londoner Hintergassen. Sie hatte sich augenscheinlich an Mr. Claremonts perfidem Humor angesteckt, denn anstatt loszuweinen, erstickte sie fast vor hilflosem Gelächter.
Verwirrt von der seltsamen Mixtur aus Verzweiflung und Übermut, wischte sie sich den Regen aus den Augen. »Ich fürchte, hier liegt eine schreckliche Verwechslung vor, Gentlemen.«
»Wir sind keine Gentlemen«, schaltete sich leise und furchteinflößend eine andere Stimme ein. »Und du bist keine Lady.«
Lucys amüsiertes Lächeln schwand, als eine dritte Gestalt sich aus den Schatten löste. Das schmale Gesicht war scharf geschnitten und listig wie das eines Fuchses.
Der tollwütige Blick nahm Lucys Handtasche ins Visier, deren Seidenhaut sich von einem Taschentuch wölbte, und der allgegenwärtigen Uhr. »Weil wir keinen Penny haben, du aber schon, so wie’s aussieht, kannst du uns ja für unsere Dienste bezahlen. Wir sind es wert, was, Jungs? Alle Weibsbilder sagen das.«
Derbes Gelächter zerrte an Lucys Nerven. Ihr Herzschlag pochte in ihren Ohren. Sie bewegte sich auf den Ausgang der Gasse zu, aber die Männer schnitten ihr den Weg ab. Kein Sonnenschirm, mit dem sie sich hätte verteidigen können. Kein liebevoller, provokanter Leibwächter, der sie beschützt hätte.
Sie kämpfte gegen die lähmende Angst an, zwang sich ein sprödes Lächeln auf die Lippen und ließ die Tasche vor den gierigen Augen des Fuchsgesichts baumeln. Sein räudiges Barthaar zuckte vor Vorfreude.
»Nicht mal ihr drei zusammen seid so viel Gold wert«, sagte sie.
Das Fuchsgesicht schnappte nach der Beute. Froh um das solide Gewicht der Uhr, schwang Lucy in weitem Bogen das Täschchen herum und traf den Kerl am Ohr. Doch bevor sie noch fliehen konnte, waren die anderen beiden da und warfen sie in einem Gewirr von Armen, Beinen und reißender Seide aufs Kopfsteinpflaster.
Gerard lehnte an einer Wand an der Ecke der Gasse und wartete, dass Lucy auftauchte. Sie schmollte vermutlich und wartete darauf, dass er zurückkehrte, um sie selbst und ihren kostbaren Handschuh zu holen. Seine Selbstverachtung wuchs, je mehr er begriff, was er da tat – die Rolle des Leibwächters spielen, und zwar mit solchem Talent und solcher Hingabe, dass er schon selber daran glaubte. Wie konnte er Lucy je beschützen, wenn
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