Verführt: Roman (German Edition)
begriff, was für ein gefährlicher Mann ihr Beschützer war, und anstatt sich vor Abscheu zu winden, spürte sie lediglich Stolz auf ihn.
Der, den Gerard ins tödliche Visier genommen hatte, war der schnauzbärtige Anführer, der die Dreistigkeit seiner Kumpane hatte ausnutzen wollen, um zur bröckelnden Ziegelwand am Ende der Gasse zu schleichen.
Der Mann hatte flehentlich die Hände erhoben. »Gnade, Mister«, wimmerte er. »Gibt keinen Grund, auf mich zu schießen. Wir ham’ der kleinen Lady nichts Böses tun wollen. Wir ham’ gedacht, Sie hätten Ihren Spaß gehabt und dass Sie nichts dagegen ham’, wenn wir auch welchen kriegen.«
Gerards ausdrucksstarker Mund verzog sich vor höhnischer Abscheu. »Genau das war dein Fehler, Freundchen. Ich lasse keinen anderen Mann berühren, was mir gehört.«
Auch wenn er bluffte, die arrogante Behauptung hätte Lucy erbosen müssen. Stattdessen durchzuckte sie schon wieder ein sonderbares Prickeln.
Die Hand mit der Waffe spannte sich, und eine schreckliche Sekunde lang dachte Lucy, Gerard werde seinen Gegner kaltblütig niederschießen. Doch dann ließ er langsam die Pistole sinken, und der Mann machte sich über die Mauer davon wie ein verschrecktes Eichhörnchen.
Die kalte, schwere Pistole baumelte in Gerards Hand. Ein eisiger Klumpen aus Wut regierte seine Seele und verlangsamte seinen Herzschlag, bis jeder Schlag wie die Schiffsglocke klang, die den Untergang einläutete. Er konnte das Blut förmlich riechen, schmeckte das berauschende Aroma der Gewalt auf der Zunge. Durchs Dröhnen in seinen Ohren drangen Gelächter und hämische Kommentare auf Französisch und Spanisch, der dumpfe Schlag eines Stiefels, der ihn in die Rippen trat, das ohnmächtige Rasseln der Ketten. Eine Hand zupfte vorsichtig an seinem Revers.
Die Brust vor Wut bebend, wirbelte er herum.
»Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«, flüsterte Lucy.
Eine Woge aus Selbstverachtung brach über ihn herein. Er war der Leibwächter dieser Frau, aber nun war sie es, die die Finger in seinen Kragen gegraben hatte und mit Augen, die vor liebevoller Fürsorge leuchteten, zu ihm aufblickte.
Sie zitterte so heftig, dass ihre Zähne hörbar klapperten. Wirre Strähnen hingen ihr ins Gesicht. Dunkle Flecken verunstalteten die zarte Haut auf ihren Wangenknochen und ließen die Augen im völlig erbleichten Gesicht größer denn je erscheinen. Vergeblich hatte sie versucht, die rußverschmierten Fetzen des Capes um die Schultern zu arrangieren, als gäbe es mehr abzuwehren als nur die Kälte.
Die trotzige Tapferkeit, mit der sie die Tränen fortzwinkerte, beschämte ihn und brachte den Eisklumpen in seiner Brust zum Schmelzen. Er fühlte etwas, das er zuvor nur ein einziges Mal gefühlt hatte. Eine sengende Hitze. Eine alles durchdringende Zärtlichkeit. Das unverhohlene Verlangen, einen Menschen zu beschützen. Eine gefährliche Verletzlichkeit.
Er schob die Pistole in den Gehrock und wollte nach ihr greifen, doch die hässlichen Flecken auf seinen Händen ließen ihn innehalten. Blutflecken. Nicht sein eigenes Blut, sondern fremdes.
Vielleicht war es besser so. Vielleicht war es besser für Lucy, wenn sie sein wahres Wesen zu Gesicht bekam, wie nur die vernichtenden Flecken es ihr zeigen konnten. Er rechnete damit, dass sie vor dem Mann, als der er sich nun erwiesen hatte, entsetzt zurückzucken würde.
Doch zu seinem Erstaunen warf sie sich in seine geöffneten Arme, vergrub das Gesicht in sein Halstuch und zerrte mit geballten Fäusten an seinem Gehrock, als wolle sie ihn nie mehr loslassen.
Der absolute Vertrauensbeweis traf ihn unvorbereitet. Er legte die Arme um sie. Die Blutflecken waren vergessen, als er über Lucys feuchtes Haar strich und ihr heiser beruhigende Worte zuflüsterte, manche klar und deutlich, andere zusammenhanglos. Doch sein Geflüster richtete nichts aus gegen ihr heftiges Zittern, also hob er sie schwungvoll hoch und zog ihr das zerrissene Cape über den Kopf, um sie vor dem launischen Regen zu schützen.
Unbeirrt vom schlechten Wetter, hatten sich am Ende der Gasse neugierige Zuschauer zusammengerottet, denen die Gerüchte über eine hässliche Schlägerei Appetit auf mehr gemacht hatten. Um Lucy nicht länger dem Gegaffe und Gerede auszusetzen, schwang sich Gerard mit seiner Schutzbefohlenen über die Ziegelmauer. Später war noch genug Zeit, Gewissensbisse zu haben. Zeit, sich für seine Sünden zu geißeln. Lucy auf den gefährlichen Straßen Londons sich selbst überlassen
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