Verführt: Roman (German Edition)
noch ein Glas Champagner gehabt, um erneut die unbekümmerte Euphorie zu genießen.
Eine Windbö blies ihr eisige Schneenadeln ins Gesicht und brachte sie zum Zittern. Wie viele Nächte hatte Gerard hier unter dem Dachsims gestanden und zu den verdunkelten, teilnahmslosen Fenstern ihres Zimmers hinaufgesehen? Heute Nacht war es an ihr, in der Kälte zu zittern wie ein Bettler und sich zu fragen, ob sie willkommen war.
Sie rollte die bestrumpften Zehen und versuchte vergeblich, das taube Gefühl loszuwerden. Dann hob sie die Hand, um anzuklopfen. Ein winziges Stückchen von der Tür entfernt, hielten ihre Fingerknöchel inne, vor Angst gelähmt, nicht vor Kälte.
Nicht so wankelmütig, Mädchen! Setze den Kurs und halte dich daran, sonst segelst du bald im Kreis herum.
»Vielen Dank, Vater«, flüsterte Lucy dem Echo der Stimme zu und lächelte matt ob der Ironie.
Sie holte aus und klopfte zweimal laut an. Die Hast, mit der sich drinnen zackige Schritte näherten, bewies, dass sie Gerard nicht aus dem Bett geholt hatte. Er fing schon zu sprechen an, bevor er die Tür noch ganz geöffnet hatte.
»Es ist noch nicht mal Schlag sechs, Smythe. Und noch verflucht dunkel da … draußen.«
Er hatte im Gehen ein zerknittertes Hemd übergestreift, das er jetzt – da nicht der Snow’sche Butler an der Türschwelle stand – den Rest des Wegs über die Schultern zog. Und Lucy blieb nichts anderes übrig, als die wohl modellierten Muskeln unter den kastanienbraunen Brusthaaren anzustarren.
Vor Sehnsucht stockte ihr der Atem. Mit der unbefangenen Neugier des Kindes wollte sie ihn nur noch berühren, mit den Fingern durch jene Haare fahren und ergründen, ob die Haut darunter so warm war, wie der Honigton es verhieß. Langsam hob sie den Blick und sah ihm ins Gesicht.
Er trug seine Augengläser nicht, so dass nichts sie mehr vor seinem finsteren Blick schützte. »Es ist schon weit nach Schlafenszeit, Miss Snow. Ich dachte, Smythe hätte Sie ins Bett gepackt.«
»Ich habe mich wieder ausgepackt.«
Er hieß sie mit keiner grummelnden Silbe willkommen, also drängte sie an ihm vorbei in sein privatestes Refugium. Der raue Plankenboden zupfte an den teuren Strümpfen, doch sie bemerkte es kaum, so sehr nahm die maskuline Atmosphäre des Raums sie gefangen. Die einladende Wärme hatte so gar nichts mit der abweisenden Kälte von Vaters Haus gemein.
Auf dem Nachttisch neben dem Bett brannte eine Lampe und tauchte die schlichten Möbelstücke in ein schmeichelndes Licht, das alle Kratzer und Kerben vergessen machte und an die Pracht vergangener Tage erinnerte. Auf einem Tisch lagen mehrere Bücher verstreut. Im ziegelgemauerten Kamin am Ende des langen Raumes glomm ein Feuer, das seine besten Zeiten schon hinter sich hatte, als sei Lucy zu spät zu einem Fest gekommen.
Der verblichene Quilt auf der einfachen Bettstatt ließ Lucy wehmütig werden. Es tat gut, Gerard von den abgetragenen Falten gegen Kälte und Dunkelheit beschützt zu wissen, die Gesichtszüge entspannt, die Haare zerwühlt wie ein kleiner Junge. Ein eisiger Luftzug bedeutete ihr, dass er noch immer nicht die Tür geschlossen hatte.
»Ich bin noch nie hier drinnen gewesen«, gestand sie im verzweifelten Bemühen, er möge sie nicht hinauswerfen.
»Ich bezweifle, dass Fenn sich sonderlich um die Wohnung gekümmert hat. Ebenso wenig wie ich im Moment.«
Als Lucy keine Anstalten machte zu gehen, drehte er ihr den Rücken zu und stemmte sich mit den Armen in den Türstock, als sei er wild entschlossen, sich selbst in die Nacht hinauszustürzen, falls sie der unausgesprochenen Aufforderung zu gehen nicht nachkam. Das Licht der Lampe tauchte in die Falten seines Hemds und umriss die angespannten Muskeln. Lucy sehnte sich danach, ihn zu berühren, seine Anspannung mit Zärtlichkeiten zu vertreiben. Sie tapste auf ihn zu.
Sie griff unter den Saum seines Hemds und berührte mit zitternden Fingern endlich die warme Haut. Doch die Berührung hatte den gegenteiligen Effekt. Seine Muskeln spannten sich noch mehr, als hätte sie unerwartet ein Blitzschlag getroffen.
»Hören Sie auf!«
Er knallte die Tür zu und schoss zu ihr herum. Verzweiflung raubte seinen Gesichtszügen ihre Milde. Lucy hüpfte unwillkürlich einen Schritt zurück.
»Ich habe mit Ihren Klein-Mädchen-Fantasien nichts zu tun, Lucy. Ich bin nicht Ihr tragischer, nobler Captain Doom. Ich bin ein Mann. Aus Fleisch und Blut. Schneiden Sie mich, und ich werde bluten. Provozieren Sie mich, und ich
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