Verführt: Roman (German Edition)
nur aus einiger Entfernung. Außerdem hat sich mein Aussehen seit meinen kurzen Ruhmestagen dramatisch verändert. Ich trug einen Bart, um nur eines zu nennen.«
Lucy senkte den Blick. Sie erinnerte diesen Bart nur allzu gut. Dieses aufreizende Prickeln an der Wange, als der Mann, der sich Captain Doom genannt hatte, sie mit seiner Sinnlichkeit verhöhnt hatte.
»Außerdem waren meine Haare damals lang«, fuhr er fort. »Zu einem Hessenzopf gebunden und viel heller als jetzt.« Die hoch gezogene Augenbraue strafte seinen unbeteiligten Tonfall Lügen. »Ich bin immerhin fünf Jahre lang nicht in der Sonne gewesen, sondern steckte, an eine steinerne Wand gekettet, in einer französischen Festung und durfte zusehen, wie meine Jugend und meine Kraft verloren gingen.«
Lucy war erschüttert. Das grässliche Schicksal seiner Mannschaft erschien ihr in gewisser Weise erträglicher zu sein als das seine. Doch diesmal war sie klug genug, sich ihr Mitleid zu verkneifen.
Abgesehen davon schien diesem Mann nichts verloren gegangen zu sein, überlegte sie, während sie ihn durch die Wimpern betrachtete. Er verströmte brachiale Kraft. Es sprach für seine exzellenten schauspielerischen Fähigkeiten, dass er diese Kraft so lange im Zaum gehalten und in den Diensten ihres Vaters wie ein einigermaßen normaler Angestellter gewirkt hatte.
Sie musste sich anstrengen, nicht den Faden zu verlieren. »Was hofften Sie, in der Bibliothek des Admirals zu finden? Glauben Sie wirklich, er wäre dumm genug, Unterlagen zu behalten, die ihn eines solch ruchlosen Vergehens überführen könnten?«
»Dumm, keinesfalls. Arrogant genug, vielleicht, aber bestimmt nicht dumm. Wenn die Wahrheit ans Licht kommt – und ich verspreche Ihnen, das wird sie -, dann wird allein der Kaperbrief zwischen Ihrem wichtigtuerischen Vater und dem Galgen stehen. Solange er den Brief hat, kann er lediglich wegen Betrugs und Unterschlagung verurteilt werden, nicht aber wegen Piraterie.«
»Das erklärt aber nicht, warum er jemanden zu meinem Schutz angeheuert hat.«
»Hat er das? Oder wollte er sich selbst schützen? Als er in der Zeitung von meiner verfrühten Auferstehung gelesen hat, hat er sich klugerweise dazu entschlossen, nicht mehr per Schiff zu reisen. Dass ich seine Tochter entführen könnte, ist ihm offensichtlich nie in den Sinn gekommen. Vielleicht hat er gefürchtet, ich würde mit Ihnen Kontakt aufnehmen. Ihnen die Wahrheit sagen, wie ich es jetzt gerade tue. Das Gericht würde einem verurteilten Piraten kaum glauben. Aber was, wenn seine eigene Tochter gegen den Admiral aussagt?«
Gegen ihren Willen musste Lucy an die zermürbende Befragung denken, der sie der Admiral nach ihrer Rettung durch die Argonaut unterzogen hatte, und an seine argwöhnischen Blicke. Als würden die Worte wahr, wenn sie sie nur inbrünstig genug der heiseren Kehle abrang, sagte sie: »Das ist völliger Unsinn. Er hat Sie engagiert, weil er sich um mich gesorgt hat. Ich bin alles, was er hat. Er braucht mich.«
»Da haben Sie verflucht Recht. Er braucht Sie. Damit er den leidenden, betrogenen Ehemann spielen kann. Damit er Sie jeden Tag und jede Stunde für die Verfehlungen Ihrer Mutter bestrafen kann, die doch tatsächlich die Frechheit besessen hat, ihm wegzusterben. Aber sie hat eine Tochter zurückgelassen, die jetzt für ihre Sünden bezahlt. Ganz der liebende Papa, nicht wahr?«
Die rohen Worte belebten erneut den schrecklichen Schmerz, den seine Hinterlist ihr bereitete. Sie geriet ins Wanken. Gerard griff nach ihr.
Sie wich vor ihm zurück. Der verzweifelte Wunsch, seiner Berührung zu entgehen, gab ihr die Kraft. Sie durfte nicht vergessen, dass seine Zärtlichkeit und seine Sorge um ihr Wohlergehen nichts anderes als das Mittel zum kaltschnäuzig kalkulierten Zweck gewesen waren. Sein Blick verdunkelte sich zwar, als sie zurückwich, doch er setzte ihr nicht nach.
Sie musste fliehen. Auch wenn sie besser als jede andere wusste, dass es auf einem Schiff kein Entkommen gab, ließ blinde Panik sie auf die Tür zulaufen. »Das hier ist eine Ungeheuerlichkeit! Ich mache da nicht mit. Ich verlange, am nächsten Hafen freigelassen zu werden, oder ich …«
Gerard schnitt ihr einfach den Weg ab und machte jede Hoffnung auf Flucht zunichte. Lucy atmete schwer und ließ sich beirren vom tröstlichen Duft aus Tabak und Lorbeer, in den sich nun das wilde salzige Aroma des Meeres gemischt hatte.
Zwischen ihnen knisterte die Spannung wie der Blitz, der dem Sommersturm
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