Verführt: Roman (German Edition)
kämpfte gegen dieselbe atemlose Angst an wie damals, als aus der Nacht die Retribution auf sie zugekommen war. Als stünde sie einer primitiven Kreatur von ungeheuerlicher Kraft gegenüber, deren bloße Existenz ausreichte, die ihre zu bedrohen. Als er näher kam, zog sie die Knie an die Brust und wusste doch, dass sie allenfalls eine wackelige Barriere bildeten. Schon einmal hatte er sie überwunden.
»Anders als Sie vermutlich annehmen, war die Piraterie nicht von jeher meine bevorzugte Beschäftigung«, sagte er.
»Wie schade, nachdem Sie anscheinend eine solche Begabung dafür haben.« Ihre Worte klangen so spröde, wie sie sich fühlte.
Er warf ihr einen finsteren Blick zu, dann marschierte er weiter. Sarkasmus stand ihr zu, fand Lucy, er war alles, was Claremont ihr noch gelassen hatte.
»Mit zwölf bin ich das erste Mal zur See gefahren. Und mit neunzehn war ich Kapitän meines eigenen Handelsschiffes.«
Nicht schlecht, aber Lucy hätte sich lieber die Zunge abgebissen, als ihn für seine Leistungen zu loben. »Wenn Sie mir Feder und Papier geben, mache ich liebend gerne ein paar Notizen für Ihre Memoiren.«
»Oder für eine Laudatio?«, schlug er vor. »Nachdem sich die Spanier mit den Franzosen verbündet hatten, konnte ein Kapitän, der es mit ihrer gemeinsamen Blockade im Mittelmeer aufnahm, ein Vermögen machen.«
»Ich bin mir über den Verrat der Spanier durchaus im Klaren. Er hat meinen Vater fast das Bein gekostet und deshalb die Karriere.«
»Glauben Sie mir, dass Spanien die Seiten gewechselt hat, hat Ihren Vater nicht annähernd so viel gekostet wie mich.« Gerards samtweicher Tonfall zerrte an ihren angespannten Nerven. Und sie war dankbar, als er mit seinem Vortrag fortfuhr. »Nachdem ich eher unabsichtlich eine spanische Fregatte entmastet hatte, die Schießpulver zu den Franzosen transportieren sollte, bin ich nach Gibraltar zurückgekehrt, wo man mich wie einen Helden empfing.«
»Eine Rolle, die Sie sicherlich genossen haben.«
Ein wehmütiges Lächeln huschte über seine Lippen. »Es hatte durchaus seinen Charme. Man empfing mich bei Hof, und die Royal Navy hat mich umworben. Es gab in London kaum einen Salon, der mir nicht offen gestanden hätte.«
Und kaum ein Bett, mutmaßte Lucy. Es war nicht besonders schwierig, sich den jungen, gut aussehenden Kapitän vorzustellen, wie er sich in der gezierten Bewunderung der Londoner Gesellschaftsdamen suhlte. Die Eifersucht versetzte ihr einen Stich. Wie hausbacken und schlicht musste ihm die Tochter eines einfachen Ritters erschienen sein!
Sie verbarg ihre Verlegenheit hinter einem gehässigen Lächeln. »Und was hat dieses romantische Intermezzo beendet?«
»Ein Fremder, der auf einem Maskenball aufgetaucht ist. Ein Fremder, der behauptet hat, im Auftrag eines hochrangigen Marineoffiziers gekommen zu sein, um mir die eine Sache anzubieten, die man nicht mit Ruhm und Ehre kaufen kann. Man hatte mir schon offeriert, das Leutnantsexamen abzulegen, aber dieser Mann versprach mir ein eigenes Schiff.« Die Erinnerung an seinen sehnsüchtigsten Wunsch ließ seine Stimme weicher werden. »Ein Kommando in der Royal Navy.« Jeder Schritt nervöse Anspannung, entfernte er sich wieder, als bereue er, so viel preisgegeben zu haben.
»Erzählen Sie weiter«, flüsterte Lucy atemlos.
»Sie wissen sicher, wie schmal der Grat zwischen Piraterie und legalisierter Freibeuterei in den Kriegsjahren war. Und mir bot sich die Chance, auf der rechtmäßigen Seite zu agieren. In die Karibik segeln, französische und spanische Fregatten aufbringen und ein Fünftel der Beute in Seiner Majestät Kriegskasse einbezahlen. Der Rest für meine Mannschaft und mich. Mein anonymer Wohltäter würde das Schiff in Dienst stellen, der Lord High Admiral den Kaperbrief ausstellen und meine Aktivitäten legalisieren, was die Franzosen daran gehindert hätte, mich zu hängen, wäre ich erwischt worden.«
Er verzog geringschätzig die Lippen, doch die Verachtung galt allein ihm selbst. »Ein Plan wie dieser musste einfach die patriotischen Schwärmereien eines ungestümen, jungen Mannes befeuern, der sein Leben lang davon geträumt hatte, seinem König zu dienen. Allein das Ränkespiel war schon unwiderstehlich genug. Ich habe den Abgesandten meines Gönners in geheimen Verstecken getroffen, auf düsteren Gassen, in verdunkelten Beichtstühlen. Nie habe ich sein Gesicht gesehen oder seinen Namen erfahren. Weshalb das so war, habe ich erst verstanden, als es schon zu spät
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