Verführt: Roman (German Edition)
verräterischer Kehle auszuleben. Doch schon beim ersten Zusammentreffen hatte Lucy seine schlafenden Skrupel zum Leben erweckt, und seine Rachegelüste waren dem Wunsch nach Gerechtigkeit gewichen, was schließlich in dem irrsinnigen Plan geendet hatte, das Lager des Feindes zu infiltrieren.
Er fragte sich, ob er sie an Bord gebracht hatte, weil ihm irgendein Wahnsinn geblieben war. Die rein körperlichen Verletzungen waren verheilt, doch die tiefen seelischen Narben der Gefangenschaft waren geblieben. In der Dunkelheit hatte der Wahnsinn wie eine Ratte an seinem Verstand genagt.
Es wäre viel einfacher gewesen, Lucy bewusstlos auf dem Boden der Bibliothek zurückzulassen, über seine wahre Identität wäre sie sich ebenso wenig klar geworden. Sie hätte vielleicht gewisse Verdächtigungen gehegt, was das abrupte Verschwinden ihres Leibwächters anging, aber mehr auch nicht – Verdächtigungen, für die es keinerlei Beweise gab.
Doch als sie seinen Piratennamen geflüstert hatte und in seinen Armen zusammengesunken war – weich und nachgiebig, als sei sie ein Stück von ihm -, hatte ihn ein rasender Besitzwille erfasst, ein primitiver männlicher Instinkt, der besser zu einem Höhlenmenschen gepasst hätte als zu einem Kapitän. Er hatte es schlicht nicht ertragen, sie dem Feind zu überlassen.
Also hatte er sie auf sein wartendes Schiff gebracht und der ständig wachsenden Liste seiner Missetaten Menschenraub hinzugefügt. Und das, so viel wusste er, konnte der Admiral nicht verschweigen. Bald würden Presse und Royal Navy seinen echten Namen herausgefunden haben, seine Personenbeschreibung und eventuell auch eine verzerrte Version seines Lebenslaufs. Eine Version, in der Lucien Snow zweifelsohne die Rolle des wagemutigen Helden spielte.
Er blickte zum nebelverhüllten Horizont, doch nicht einmal der ungestüme Zauber der Sturmwolken schenkte seiner Seele Frieden. Viel zu bald würde ein Flottenverband der Royal Navy den Horizont übersäen und die Kanonen auf die Retribution richten.
Er riskierte sein Schiff, seine Mannschaft, sein Leben. Alles nur, um sich schlussendlich Lucinda Snows Verachtung zuzuziehen.
Er drehte sich nicht einmal um, als Apollo aus dem Schatten unter dem Fockmast auftauchte, wie das personifizierte schlechte Gewissen. »Als ich sie damals an Bord brachte, wusste ich nicht, dass sie eine Frau ist. Können Sie von sich dasselbe behaupten, mein Freund?«
In der melodischen Stimme seines Steuermanns schwang der Rhythmus der Inseln mit und ein leichter französischer Akzent, den er seinen früheren Herren verdankte. Gerard wusste, wie besorgt Apollo war. Man verbrachte nicht fünf Jahre festgekettet neben ein und demselben Mann, ohne dessen Launen kennen zu lernen, nicht einmal dann, wenn dieser Mann so in sich gekehrt war wie Apollo.
Gerard warf ihm einen finsteren Blick zu. »Hätte meine Mannschaft nicht gedroht, ohne mich abzusegeln, wäre mir mehr Zeit geblieben, die Konsequenzen zu bedenken.«
Ein schwaches Zucken störte Apollos von Natur aus gelassenes Mienenspiel. »Wir hatten keine andere Wahl, Captain. Wir hätten uns schon noch eine Woche im Verborgenen gehalten, wäre da nicht der unglückliche Vorfall mit der Frau des Earls gewesen. Wir hielten es für das Beste, vor dem Duell loszusegeln. Deshalb habe ich Kevin auch in dieses aufgeputzte Haus geschickt, um Ihnen mitzuteilen, dass Eile geboten ist.«
»Verflucht soll er sein, dieser lüsterne Kerl! Am liebsten würde ich ihn selber zum Duell fordern!« Gerard rieb sich wütend die Wange und kratzte seine Handflächen an den frischen Stoppeln, die hoffentlich bald zu einem ordentlichen Bart gediehen waren. Dass er sich zweimal pro Tag hatte rasieren müssen, zählte zu den Dingen, die ihn auf Iona am meisten enerviert hatten. »Und keine Spur von Schuldbewusstsein. Ich hätte ihm nie das Kommando übergeben dürfen.« Er pochte Apollo drohend mit dem Finger auf die geölte Brust. »Hättest doch du das Kommando geführt …«
Mit einem Meter dreiundachtzig war Gerard fast einen halben Meter kleiner als sein Steuermann, dennoch trat Apollo hastig einen Schritt zurück. »Ich bin in der Kommandokette lieber die Nummer zwei, Sir. Erspart mir die schwierigen Entscheidungen.«
Frustriert über die eigenen zweifelhaften Entscheidungen, raufte Gerard sich das Haar. »Wie zum Beispiel: Was mache ich jetzt mit ihr ?«
Dass Apollo instinktiv wusste, wann es Zeit war aufzuhören, zählte mit zu den Eigenschaften, die ihn zu
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