Verfuehrung
auf einen spektakulären Fall zu sprechen, der sich in Dresden und Leipzig ereignet hatte, jedoch Kreise in allen europäischen Ländern zog, wo Kastraten auf der Bühne auftraten, und wollte wissen, ob er ihn kannte. Auf Casanovas Verneinung hin erläuterte er den ganzen Sachverhalt.
»Also, bei uns im Kirchenstaat wäre es bei dieser Sachlage gar nicht erst so weit gekommen. Aber die Lutheraner wissen eben alles besser. Da hat man dem protestantischen Konsistorium für juristische Fragen in Leipzig einen Fall vorgelegt. Angeblich sei ein schwedischer Adliger mit dem Namen Titius im Krieg gegen Dänemark durch einen Kartätschenschuss so verwundet worden, dass man seine ohnehin zerquetschten Hoden entfernen musste. Titius sei es aber dennoch gelungen, die Liebe einer Jungfrau mit dem Namen Lucretia zu gewinnen, obwohl er ihr diese Verwundung und ihre Bedeutung gestanden habe. Lucretia war Halbwaise, die Mutter war einverstanden, aber die Verwandten protestierten, weil eine solche Ehe gleich gegen zwei Ziele der christlichen Eheschließung verstieße, die Fortpflanzung, zu der Titius nicht mehr imstande war, und die Löschung der Lust. Da er diese Lucretia innerhalb der Ehe nicht schenken konnte, brachte man sie doch in ständige Gefahr, die Ehe zu brechen.«
»Kirchenrechtlich durchaus korrekt gefragt«, sagte Casanova. »Was meinen Sie, Bellino?«
»Ich meine, die Kommission hätte die Jungfrau Lucretia befragen sollen«, gab sie zurück, denn es war ihr zu offensichtlich, dass der Student die Geschichte als pure Herausforderung für sie erzählte.
»Eine Jungfrau? Aber bestimmt nicht. Der Anwalt des Titius schwor, dass sein Mandant zum Geschlechtsverkehr nicht gänzlich untüchtig sei und einem Weib Satisfaktion geben könne, wie es in dem Dokument hieß. Die Leipziger Richter ließen sich tatsächlich darauf ein und gestatteten eine Hochzeit, nicht zuletzt, weil ihnen der verletzte Held Titius leidtat, vermute ich.
Wenige Wochen darauf stellte sich aber heraus, was doch von Anfang an hätte klar sein sollen. Natürlich gab es keinen schwedischen Grafen namens Titius mit einer schweren Kriegsverletzung. Der Antragsteller war in Wirklichkeit ein Kapaun, der Kastrat Sorlisi, der doch tatsächlich, statt sich aufs Tirilieren zu beschränken, wofür man ihn nach Dresden geholt hatte, einem Mädchen namens Dorothea den Kopf verdreht hatte. Das änderte natürlich alles.«
Bellino fragte sich, ob sie ruhig bleiben sollte. Dann würde das Gespräch im Nichts versickern, was es verdiente, denn der Student konnte ihretwegen doch nur auf Streit aus sein. Aber es war für sie vollkommen unmöglich, sich zurückzuhalten, nicht in Gedanken daran, wie sie eine Dorothea gewesen war und jetzt als ein Sorlisi dem Studenten gegenübersaß.
»Warum?«, fragte sie scharf. »Wenn doch der Fall entschieden war. Sind denn die Lutheraner nicht stolz darauf, sich nicht mehr nach Rom richten zu müssen?«
»Selbst Protestanten«, erwiderte der Student genüsslich, »haben ein Gefühl dafür, was widerwärtig ist. Niemand kann etwas für eine Kriegsverletzung. Doch ein Kastrat ist etwas zutiefst Unnatürliches, absichtlich so geschaffen. Die Ehe mit einem Kastraten kann nur die weibliche Lust durch perverse Praktiken bedienen, und das ist ebenfalls unnatürlich.«
»Ich finde nichts natürlicher, als der weiblichen Lust zu dienen«, kommentierte Casanova, doch sie hörte dabei auch das Ungesagte.
»Und Kastraten halten Sie ebenfalls für unnatürlich?«
»Sie sind unnatürlich«, sagte Casanova, der diesmal immerhin nicht vorgab, sie misszuverstehen, oder der Antwort durch einen Geistesblitz auswich. »Das ist nicht ihre Schuld, sondern die ihrer Eltern, und die Schuld unsinniger Bestimmungen, weil der Apostel Paulus gesagt haben soll, das Weib schweige in der Kirche, was erst nur zu Knabenchören führte, dann später zu Auftrittsverboten für Frauen auf allen Bühnen innerhalb des Kirchenstaates …«
»Also, diese Bestimmungen waren gut genug für mehrere hundert Jahre, da werden Sie es doch wohl nicht besser wissen wollen«, unterbrach ihn der Student.
»… aber ihr Zustand ist ein unnatürlicher und wurde durch eine gewaltsame Verstümmelung erreicht, denen die Betroffenen freiwillig nie zugestimmt hätten«, schloss Casanova, ohne ihn zu beachten. »Es tut mir leid, Bellino. Doch das lässt sich nicht bestreiten.«
»Schauen Sie sich doch an!«, brach es aus dem Studenten heraus. »Ist es Ihnen nicht peinlich, mit
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