Verfuehrung
mit Petronio sprechen können, Scherze mit ihm teilen, getröstet werden und trösten, sich die Haare darüber raufen, dass er es nicht ernsthaft genug mit der Tanzerei versuchte, niemals mehr sich gegenseitig Grimassen schneiden, wenn die Menschen um sie wieder einmal närrisch oder pompös waren … Sie würde ihn verlieren.
»Ich liebe dich«, flüsterte sie.
Er erwiderte nichts. Sie rappelte sich auf, kletterte aus dem Bett und ging zur Tür, mit jedem Schritt schneller. Wenn es noch schlimmer war, einen Bruder zu verlieren als einen Liebsten, dann wollte sie das nicht herausfinden.
»Wie ist dein wirklicher Name?«, fragte er mit rauher Stimme, die so gar nicht zu dem übermütigen Petronio passte, als sie die Tür erreichte. Sie biss sich auf die Lippen. All die Jahre hatte sie sich verboten, ihn auszusprechen.
»Bellino ist jetzt mein wirklicher Name. Aber ich – ich war Angiola Calori.«
»Ich sage nicht, dass ich dir verzeihe, Calori«, murmelte er. »Aber pass auf dich auf, was den Abbate betrifft, und denk an deine eigenen Ratschläge. Mach dir eine schöne Zeit, aber lass dich nicht beraspeln. Und wenn du nicht bald auf der verdammten Bühne in Neapel singst mit deiner Ausbildung, die du im Namen meines Bruders gekriegt hast, dann hol dich der Teufel, hörst du?«
»Laut und deutlich«, gab sie zurück, und die Erleichterung hätte ihr beinahe den Brustkorb gesprengt.
* * *
Der Wirt hatte dafür gesorgt, dass die Postkutsche vor seinem Gasthaus hielt, um Bellino und Casanova mitzunehmen, und half Bellino auch, den Weidenkorb mit ihrer Kleidung aufzuladen. Das Reisespinett würde später von der Familie mitgebracht werden. Es fiel ihr auf, dass Casanova nur eine kleine Truhe mit sich führte. Außerdem trug er genau denselben Rock und dieselben Hosen, mit denen er in Ancona eingetroffen war.
Obwohl es noch früh am Morgen war, stand diesmal die gesamte Familie Lanti bereit, um sie beide zu verabschieden. Cecilia und Marina schienen entweder nicht verstanden zu haben, was die Bemerkung mit Neapel bedeutete, oder sie nahmen es ihr nicht übel. Sie umarmten Bellino, ohne zu zögern, und Casanova ein wenig tränenselig. Mama Lanti hielt den Rosenkranz in der Hand und murmelte Bellino »Dio provvedera« ins Ohr.
Gott wird vorsorgen, dachte Bellino, das mag sein, aber mein bisheriges Leben lässt mich glauben, dass Gott nur denen hilft, die sich selber helfen.
Petronio sagte gar nichts, aber er gab ihr einen Klaps auf die Schultern, wie um die Brüderlichkeit zu betonen. Dabei lächelte er nicht; seine Augen blickten ernst, doch nicht mehr feindselig. Don Sancho hatte sich entweder von Casanova genauso verabschiedet wie von ihr, oder er zog es vor, auszuschlafen; in jedem Fall war er nicht zugegen. Die Postkutsche hatte außer ihnen nur noch einen weiteren Gast, eine Magd, die in Sinigaglia eine neue Stellung antreten würde und für einen Sitzplatz im Inneren nicht bezahlen konnte. Daher saß sie neben dem Fahrer auf dem Kutschbock und neckte sich mit ihm.
»Der Glückspilz«, sagte Casanova, während die Kutsche sie aus Ancona hinaustrug, und klang halb scherzhaft, halb ernst. »Manche Männer müssen eben nicht durch die Fastenzeit leiden, weil es hartherzigen Wesen so gefällt.«
»Wenn Sie sich einen unglücklichen Faster nennen würden, dann wäre das eine Beleidigung für meine beiden Schwestern, und ich müsste Sie zum Duell fordern«, gab Bellino aufgeräumt zurück.
»Einen Zweifler, das ist es, was ich mich immer noch nenne«, sagte er. »Bellino, kann es sein, dass es sich bei dem … Auswuchs …, den ich bemerkt habe, um ein Naturspiel handelt? Sie müssen sich nicht schämen, wenn das so ist. Als ich noch Arzt werden wollte, da habe ich über solche Phänomene gelesen. Der Ton Ihrer Stimme, Ihre Gesichtszüge, Ihre Augen, der wundervolle Busen, diese magnetische Wirkung, die Sie auf mich haben, all das ist so überaus weiblich, dass ein einziges Malheur der Natur Sie darum nicht weniger zu einer Frau macht.«
Das Rütteln der Kutsche erinnerte sie an die Contessa, was dazu beitrug, ihre Widerspruchslust noch zu steigern.
»Ich stelle fest, dass Ihre Definition von dem, was eine Frau ausmacht, zunehmend verwirrender wird. Also bin ich selbst dann für Sie eine Frau, wenn ich über das gleiche männliche Glied verfüge wie Sie selbst. Aber alles andere an mir ist weiblich, weil Sie sich nur von weiblichen Reizen angezogen fühlen können? Bei dieser Art von Logik scheint es mir
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