Verfuehrung
ein Segen, dass Sie nicht Arzt geworden sind. Mir schaudert bei der Vorstellung, welche Diagnosen Sie stellen würden – streng danach, was Sie wahrhaben wollen, nicht nach dem, was sich tatsächlich vor Ihren Augen zeigt.«
»Als Abbate ist es doch geradezu mein Beruf, hinter die Dinge zu blicken und von Wahrheiten überzeugt zu sein, die nicht offensichtlich sind«, antwortete Casanova in einem tugendhaften Tonfall, den er nicht durchhalten konnte, denn er übertrieb es so sehr, dass die letzten Worte in seinem und ihrem Lachen erstickten.
»Ich wünschte, Sie würden mich nicht so oft zum Lachen bringen«, sagte Bellino, als sie sich wieder beruhigt hatte. »Das ist eine gefährliche Eigenschaft, denn sie lässt mich immer wieder vergessen, wie wenig Ihnen zu trauen ist.«
»Mir? Der Schuh sitzt da eher an Ihrem bezaubernden Fuß, Bellino. Was genau finden Sie an mir denn nicht vertrauenswürdig?«
»Das ist nicht Ihr Ernst.«
»Gelegentlich bin ich ein sehr ernsthafter Mann. Zugegeben nur gelegentlich, aber gerade jetzt meine ich es ernst.«
Ein paar Schlaglöcher gaben ihr die Zeit, sich eine Formulierung zurechtzulegen, die nicht einen völlig falschen Eindruck von irgendwelcher Eifersucht vermittelte.
»Nun, entweder sind Sie ein Abbate und der Sekretär eines Kardinals, und in diesem Fall bedeuten Ihre Abenteuer mit der Griechin und meinen Schwestern den Bruch Ihrer Gelübde, oder Sie geben sich nur als beides aus und sind ein Laie, und in diesem Fall wären Sie ein Lügner.«
Der Sonnenschein, der durch die Kutschenvorhänge fiel, zeichnete im dämmrigen Licht des Inneren goldene Flecken auf sein dunkles Haar.
»Ein Abbate hat erst die niederen Weihen und hat noch keine lebenslangen Gelübde abgelegt oder sich bereits dem Zölibat verpflichtet. Im Übrigen, als jemand, der Rom besucht hat, kann ich Ihnen versichern, dass selbst die Kardinäle dort, die samt und sonders alle Gelübde abgelegt haben, sie ständig brechen.«
»Was die Kardinäle in Rom tun, war nicht die Frage, oder?«, gab sie zurück. »Sondern das, was Sie hier tun. Ich weiß auch, dass ein Abbate noch keine lebenslangen Gelübde geleistet hat, aber genauso wenig erteilen ihm seine niederen Weihen die Aufgabe, mit jedem ins Bett zu gehen.«
»Mit jeder«, verbesserte er sie. »Das ist doch der springende Punkt zwischen uns, nicht wahr? Mit jede r, nicht jedem.«
»Sie haben schon wieder von der Frage abgelenkt«, sagte sie, mehr bewundernd als ärgerlich, denn er war wirklich sehr, sehr gut darin, und es hatte eine Weile gedauert, bis sie bemerkt hatte, dass sein Kommentar über die Gelübde eines Abbates weder bestätigte noch leugnete, dass er wirklich einer war.
»Mit anderen Worten, ich soll Ihnen vertrauen, aber Sie wollen mir nicht vertrauen? Das scheint mir doch ein höchst ungleicher Tausch zu sein, Bellino. Sie könnten mir zumindest hier, wo wir unter uns sind, einen Blick statt einen Griff auf jenes Teil gewähren, von dem Sie behaupten, dass es identisch mit dem meinen ist und nicht eine willkürliche Wucherung der Natur.«
Ihr wurde kalt, als er »unter uns« sagte. Er war kein Aristokrat wie die Contessa, die mit eigenen Bediensteten gereist war, doch ihr Vertrauen darauf, dass der Postkutscher auf ihrer Seite stehen und die Kutsche anhalten würde, sollte Casanova sich einfach nehmen, was er haben wollte, war sehr gering. Möglicherweise tat sie dem Mann unrecht, aber ihr Vertrauen darauf, dass Fremde zu Hilfe von Fremden eilten, war in den vergangenen Jahren stets gesunken, nicht gewachsen.
Ein kleiner Junge hatte ihr einmal in einem venezianischen Theater geholfen, protestierte eine Stimme in ihr. Aber das war Jahre her, und er konnte sich noch nicht einmal mehr daran erinnern.
Sie schluckte und warf sich den Mantel unnahbarer Selbstsicherheit um. »Bedenken Sie, dass Sie nicht mein Herr sind, dass ich mich im Vertrauen auf ein Versprechen hier mit Ihnen befinde und dass Sie sich eines schweren Vergehens schuldig machen, wenn Sie mir Gewalt antun.«
»Ich wollte nicht …«, begann er bestürzt.
»Sagen Sie dem Postkutscher, er möge halten. Ich werde aussteigen, und wir gehen getrennte Wege.«
»Bellino, ich schwöre Ihnen, ich würde Ihnen nie Gewalt antun. Oder überhaupt etwas gegen Ihren Willen tun. Das gilt für Sie wie für jede andere Frau.«
»Und für jeden anderen Mann«, setzte sie sofort nach. Er seufzte.
»Und für jeden Mann«, gab er nach. »Es war nur ein Vorschlag. Sie haben mich
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