Verfuehrung
missverstanden.«
In diesem Moment beschloss sie, ihm tatsächlich etwas anzuvertrauen. Nicht das, was er wissen wollte, aber etwas sehr Persönliches. Wie er damit umging, würde eine Probe sein. Sie senkte ihre Stimme.
»Es gibt Vorschläge und Vorschläge. Mir sind schon Vorschläge gemacht worden, die deutlich auf Erpressung hinausliefen, und das ist gar nicht so lange her. Vielleicht bin ich deswegen misstrauisch. Aber ich glaube, es liegt auch daran, dass Sie durch die Welt gehen, als schulde Ihnen jeder Mensch, dem Sie begegnen, ein Ja, und als seien Sie taub, was das Wort ›nein‹ betrifft. Darin erinnern Sie mich an andere, ähnliche Vorschläge machende Personen.«
In der Stille, die zwischen ihnen entstand, hörte sie das Ächzen und Klappern der Wagenräder und die Stimmen des Kutschers und der Magd, die in Wortfetzen und Murmellauten zu ihnen drangen.
»Ich bin sehr vertraut mit dem Wort nein«, sagte er schließlich, und es lag nichts Ironisches oder Spöttisches in seiner Stimme. »Inwendig, auswendig. Es gab Zeiten, in denen bekam ich nichts anderes zu hören. Nein, Giacomo, ich habe jetzt keine Zeit, ich muss auftreten. Nein, du kannst nicht mit mir kommen. Nein, es gibt keine andere Schule, ganz gleich, wie viele Läuse in den Matratzen und wie viele Kinder noch in dem Zimmer sind, sei froh, dass dir überhaupt eine Schule bezahlt wird, und hör auf, dich zu beschweren. Nein, du kannst nicht Arzt werden, studiere Rechte, das ist billiger. Oder studiere Theologie, das ist noch billiger, denn die Kirche versorgt dich ein Leben lang! Oh, ich kenne dieses Wort. Genau deswegen höre ich es mittlerweile wohl nicht mehr. Wer durch die Welt geht und sich zu oft ein Nein sagen lässt, geht unter, Bellino, zumindest, wenn er nicht in einen hohen Stand hineingeboren wurde. Und ganz gleich, was man leistet, auf ehrliche Weise lassen die uns nie in ihre Kreise hinein. Ich sage nicht, dass man ein Ja erzwingen sollte. Niemals. Das Beste wäre ohnehin dieses schwierigste Wort unserer Sprache, nein, nur zu sagen, wenn es wie ein Ja klingt. Doch wer vermag das schon? Aber man kann versuchen, die Welt durch Überzeugung dazu zu bringen, ein Nein in ein Verzeihen Sie oder ein Vielleicht umzuwandeln, und ein Vielleicht in ein Ja. Versuchen Sie das etwa nicht auch des Öfteren?«
Das Gefühl, das sie hatte, wenn sie sang, jedes Mal, wenn sie vor Publikum auftrat, der Entschluss, nicht in Bologna zu bleiben und sich mit dem Liebhaber ihrer Mutter verheiraten zu lassen, sondern ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen … aber das war etwas anderes. War es das wirklich?
»Vielleicht«, sagte sie.
Sie spürte sein Lächeln mehr, als dass sie es sah.
»Sehen Sie.«
»So ein Vielleicht habe ich nicht gemeint.«
»Hm, dann habe ich die Antwort nicht von Ihren Lippen, sondern von Ihren Augen abgelesen. So lassen Sie uns unsere Überzeugungsarten einfach anders vergleichen. Sprachen Sie nicht selbst gestern von der italienischsten aller Kunstformen, die wir teilen?«
»Von der Improvisation, ja.«
»Was ist Improvisation anderes als der Einsatz unseres Geistes und unserer Talente gegen die festgefahrenen Gewohnheiten der Menschen, die uns sonst nicht beachten? Was ist sie anderes als Verführung?«
»Sie setzen also selbst Ihre Überzeugungen immer mit Verführung gleich?«, fragte Bellino und wusste nicht, ob sie dem widersprechen oder es bestätigen wollte.
»Bei Überzeugungen, die sich lohnen, ja.«
Sie konnte nicht widerstehen. »Darf ich dann wissen, wie Sie den Papst dazu bekommen haben, Ihnen Dispens zur Fastenzeit zu gewähren, als armer Abbate?«, erkundigte sie sich mit unschuldiger Miene.
Diesmal war er es, der lachte, bis ihm die Tränen kamen. Das Schweigen, das seinem Lachen folgte, war nicht mehr belastend, sondern hatte etwas von einem Tau, das sie beide in den Händen hielten und in entgegengesetzte Richtungen zogen. Wenn einer von ihnen nachgegeben hätte, wären sie beide zu Boden gestürzt, doch ihre Erwartungen an das Seil und die Anstrengung, stehen zu bleiben, schuf eine neue Verbindung.
Die Postkutsche hielt, und ein weiterer Passagier gesellte sich zu ihnen. Nach eigener Auskunft war er ein Student der Rechte. Auf jeden Fall war er mit der Redseligkeit eines Advokaten gesegnet, denn er hörte nicht auf zu sprechen. Als er erfuhr, dass Casanova ein abgebrochenes Jurastudium hinter sich hatte, gab es für ihn überhaupt kein Halten mehr. Aus einer kaum zu übersehenden Absicht kam er
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