Verfuehrung
betreute den Kirchenchor und unterrichtete einige der reicheren Bürger und die Sprösslinge des lokalen Adels, deren Eltern ein paar Grundkenntnisse auf den verschiedensten Instrumenten für Empfänge und stille Abende für passend hielten. »Solche Kastraten«, hatte Appianino gesagt, »sind immer bestrebt, ein Talent zu entdecken, das ihre Existenz doch noch rechtfertigt. Er wird hart zu dir sein, aber er wird nur dein Bestes wollen, in seinem eigenen Interesse. Wenn du ihn täuschen kannst, dann kannst du alle täuschen.«
»Und wieso kannte er den echten Bellino nicht?«
»Weil der echte Bellino immer noch auf dem Konservatorium in Neapel war, als er starb, und seine Familie früher in Ancona gelebt hat.«
Melani war hochgewachsen wie Appianino, doch wesentlich umfangreicher. »Dick oder hager, mein Junge«, sagte er zynisch, als er Angiolas Blick bemerkte, »auf diese zwei Arten gibt es uns, wenn wir die dreißig einmal überschritten haben. Es wird auch dich erwischen, wenn du so alt wie ich wirst, warte es nur ab.«
Er schlug ihr auf die Finger, wenn sie das Klavier nicht richtig spielte, weil sie nur Appianinos Reisespinett gewohnt war. Sie lernte, dass es für Kastraten üblich und wichtig war, wenigstens ein Instrument fehlerlos zu spielen, denn diese Fähigkeit blieb, unabhängig von der Macht ihrer Stimme. Daher lehrte er sie auch, auf der Orgel zu spielen, und es half ihr sehr, dass sie das Spinett fast perfekt beherrschte. Er ließ sie Atemübungen machen, wie es Appianino auch getan hatte. Doch anders als dieser schlug er sie ins Gesicht, wenn sie nicht richtig intonierte.
»Sind das Tränen in deinen Augen?«, fragte er, misstrauisch und höhnisch zugleich.
»Nein«, erwiderte sie mit zusammengebissenen Zähnen.
»Ich glaube nicht, dass ich härter schlage, als man es auf den Konservatorien zu tun pflegt. Oder hat sich das seit meiner Zeit so sehr geändert?«
Sie hatte geglaubt, der musikalische Teil ihres neuen Lebens würde leicht sein und das Zusammenleben mit ihrer neuen »Familie« schwer, aber zunächst war es genau umgekehrt. Ihre neue »Mutter« hatte kein Geld für Dienstboten, kochte selber, was sie sehr gut beherrschte, und es war überraschend tröstend, nach ein paar harten Stunden mit Melani daheim dampfend warme Makkaroni vorzufinden. Petronio, ihr neuer Bruder, behauptete, als kleines Kind habe sie immer wie ein Edelmann fechten lernen wollen und gerne mit Stöcken gespielt. Da Fechtszenen in manchen Stücken vorkamen, ließ sie sich darauf ein, mit Stöcken und Ästen aufeinander einzuschlagen, und es machte ihr sogar Spaß. Er war sehr wendig und gelenkig. Außerdem tanzten er und die kleine Marina leidenschaftlich gerne, und sie stellte fest, dass es unendlich mehr als die Menuette gab, die ihr ihre Mutter beigebracht hatte und die auch in Opern vorkamen.
Die Nächte fielen ihr dagegen sehr schwer, nicht nur wegen Appianinos Abwesenheit, sondern auch wegen der ihrer Mutter. Sie redete sich ein, dass ihre Mutter sie bestimmt nicht vermisste, sondern weiterhin glücklich in den Armen des widerwärtigen Falier lag. Aber Angiola hatte ihr ganzes bisheriges Leben mit ihrer Mutter verbracht, und erst jetzt merkte sie, wie selbstverständlich sie das hingenommen hatte. Selbst an Tagen, an denen sie und die Mutter kaum sprachen, war doch eine kurze Umarmung, ein Kuss, ein Lächeln Teil ihres Daseins gewesen. Wenn sie in dem fremden Bett nicht schlafen konnte, kamen ihr Ängste, die sie in Bologna nie geplagt hatten. Was, wenn Falier ihrer Mutter grollte und ihr das Leben zur Hölle machte, statt sein Verhältnis mit ihr weiterzuführen? Was, wenn ihre Mutter keine Untermieter mehr fand und niemanden mehr, der ihr Geld lieh? Hatte sie ihre Mutter zur Bettlerin gemacht?
Sie hat mich an Falier verraten, sagte sich Angiola, aber in den Nächten voller Einsamkeit und wenig Schlaf half das immer weniger gegen die Erinnerungen an Lucia, wie sie Angiola während der Röteln pflegte und dabei ein weiteres Kind verlor, wie sie einander trösteten, wenn der Vater auf sie beide zornig war, oder die Begeisterung teilten, mit der sie zum ersten Mal gefrorenes Eis verspeisten.
Zurückzugehen in ihr altes Leben kam nicht in Frage. Aber sie wünschte sich, sie könnte wenigstens schreiben, um zu erfahren, ob es ihrer Mutter gutging.
Angiola war unsicher, welche Vorstellung schlimmer war: dass ihre Mutter sich vor Sorge verzehrte oder dass Lucia insgeheim sogar erleichtert war, Angiola los zu
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