Verfuehrung
sein.
»Schmeckt dir die Suppe nicht, mein Junge?«, fragte Signora Lanti – Mama, nenne sie Mama, ganz gleich, wie das sticht! – bekümmert.
»Sie ist köstlich. Ich – ich vermisse nur meine Lehrer am Konservatorium. Nicht, dass Signore Melani kein guter Maestro ist«, setzte Angiola hastig hinzu, »es ist nur so, dass ich so lange mit diesen Lehrern gelebt habe.«
Sie wusste nicht, wie viel Appianino Signora Lanti von ihrem wahren Hintergrund erzählt hatte, und sie brachte es noch nicht über sich, der Frau etwas so Persönliches anzuvertrauen. Ein Teil von ihr wollte wie ein kleines Kind in Tränen ausbrechen und rufen »meine Mutter, ich will meine Mama zurückhaben!«, und es war weniger ihr tatsächliches Alter, das sie schützte, als die Erinnerung an Faliers Hände. Die Lucia von früher war es, die sie zurückhaben wollte, nicht Faliers Mätresse: die Mutter ihrer Kindheit, deren Liebe so selbstverständlich gewesen war wie die Luft zum Atmen. Sie holte tief Luft und würgte den Tränenkloß in ihrer Kehle hinunter. Bellino um irgendwelche Lehrer weinen zu lassen würde kaum glaubhaft sein. Zu ihrer Überraschung nickte Signora Lanti jedoch langsam, und ihre Augen in dem breiten Gesicht schauten, als verstünden sie genau, was Angiola wirklich meinte.
»Es tut weh«, sagte sie ernst. »Das Alte verlassen. Im Neuen leben. Selbst, wenn man es sich wünscht. Als ich meinen Beppo, Gott hab ihn selig, geheiratet habe, ging es mir genauso.« Nach einer unmerklichen Pause fügte sie hinzu: »Aber jetzt bist du wieder bei uns, mein Sohn. Denk immer daran, du bist nicht allein.«
Tagsüber nicht an ihre Mutter zu denken fiel ihr leichter.
Nach einem Jahr erst bot Melani ihr an, im Kirchenchor eine Solopartie zu übernehmen und ihn gelegentlich beim Spielen der Orgel zu ersetzen. »Diese Banausen hier«, sagte er naserümpfend, »merken den Unterschied zu einem wahren Organisten ohnehin nicht.«
Er mochte sagen, was er wollte, das Ave-Maria singen zu dürfen war ihr erster öffentlicher Auftritt, selbst wenn man sie genauso wenig wie den Rest des Chores in der Kirche sehen würde. Sie konnte ihre überschäumende Freude über die Darbietung nicht unterdrücken und teilte es jedem Mitglied der Familie Lanti mit, die sich gebührend beeindruckt zeigten und schworen, all ihre Freunde dazu zu bringen, zu diesem Gottesdienst und keinem anderen zu gehen. Cecilia, die Ältere, pflückte ihr am Tag vorher sogar Blumen.
»Sängern schenkt man Sträuße, nicht wahr?«, fragte sie, und Angiola war gerührt. Es war schön, Geschwister zu haben, dachte sie. Dann wurde ihr jäh bewusst, dass sie auch die Lantis für immer verlassen würde, wenn Appianino sie erst zu sich holte. Der Gedanke traf sie zu ihrer eigenen Überraschung wie ein kalter Guss, nachdem sie gerade erst Platz in einer großen Familie gefunden hatte.
Als sie mit dem Rest des Chores auf der Empore im hinteren Teil der Kirche stand und die kleineren Jungen miteinander tuscheln hörte, bis Melani sich stirnrunzelnd räusperte und bedeutungsvoll auf den Rohrstock an seiner Seite blickte, erkannte Angiola die Bedeutung dieses Augenblicks: Genau, um das zu verhindern, was sie gerade im Begriff stand zu tun, eine weibliche Stimme im Haus Gottes zu hören, war mit der Kastration von Jungen für die Kirche begonnen worden. Es war ein Gedanke, der sie gleichzeitig verstörte und rebellisch stimmte. Bologna hatte sie bereits gelehrt, dass es einen großen Unterschied ausmachte, ob jemand ein berühmter Kastrat wie Appianino war, dessen Können bewundert wurde, oder ein Niemand, der gerade erwachsen wurde. Appianino waren die Menschen hinterhergelaufen, weil sie ihn verehrten. Ihr gingen gelegentlich Gassenjungen nach, um sich über sie lustig zu machen, »Kapaun! Kapaun!« zu schreien oder sich bedeutungsvoll ans Gemächt zu greifen und »Wo sind deine Eier, du Krüppel!« zu höhnen. Das Gleiche galt auch für Melani. Kein Wunder, dass er nur mit seinem Rohrstock aus dem Haus ging.
Sie hatte keinen Rohrstock. Aber sie hatte ihre Stimme, ihre Stimme, die allmählich zu dem Instrument wurde, von dem sie geträumt hatte. Als sie Melanis Einsatzzeichen sah, sprach sie ein stummes Gebet zur heiligen Cäcilia, Schutzpatronin der Musiker und Sänger, und hob ihre Stimme, um die Mutter Gottes zu preisen. Je länger sie sang, hell, hoch und zugleich voluminös, und ihre Töne kamen bei diesem ersten Auftritt aus der größten Tiefe ihrer Seele, spürte selbst
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