Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Verfuehrung

Verfuehrung

Titel: Verfuehrung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
Vom Netzwerk:
sie auf der Empore das unbeschreibliche Atmen der Kirchenbesucher, die aufstanden, sich umdrehten und sehen wollten, wer die in dieser Kirche bisher nicht gehörten Töne von sich gab. Der Pfarrer wartete mit seinem Hüsteln, um die Gläubigen zum Kern der Messe zurückzuholen, Gott sei es gedankt, bis sie zum Ende kam, denn auch er schien ergriffen zu sein. Sie hatte das Lied an diesem Tag in ihrer Seele geboren, und es war in den Herzen der Gläubigen angekommen. Das hatte sie erträumt und es war geschehen, und Angiola wusste, es konnte wieder geschehen, immer wieder.
    Es gab ein Festmahl an jenem Tag, und obwohl Melani, der die Einladung zum Essen ablehnte, zuerst geknurrt hatte, »das Lob von hundert Narren wiegt nicht«, bat er sie dann, sich am nächsten Sonntag gleichermaßen nützlich zu machen. Ehe er sie gehen ließ, händigte er ihr einen Brief aus.
    »Ich habe ihn schon seit zwei Wochen, aber ich wollte dir den Tag nicht verderben«, war keine gute Vorbereitung auf erfreuliche Nachrichten. Was in dem Brief von Appianino an Melani stand, war alles andere als Glückwünsche zu ihrem ersten öffentlichen Auftritt. Er schrieb ihr, Händel hätte aus London geschrieben und ihn gebeten, dorthin zu kommen; er füge eine Anweisung für Melani und die Lantis bei und fühle sich weiter an sein Versprechen gebunden; sie müsse nur verstehen, dass es noch ein Jahr dauern könne, bis er wieder in Italien sei oder sie zu sich rufen könne.
    * * *
    Was hatte ihn nur bewogen, dem Bischof von Martirano nach Kalabrien zu folgen? Oh, er wusste es nur zu gut. Giacomo hatte es aus Dankbarkeit für seine Mutter getan, die ihm die Stelle vermittelt hatte. Trotz bester Vorsätze machten ihn die Beweise, dass sie sich noch an seine Existenz erinnerte, immer wieder glücklich. Und er tat es für seine Großmutter, die nicht mehr bei bester Gesundheit war und den nächsten Frühling nicht mehr erleben würde. Sie in dem Glauben sterben zu lassen, ihr ältester Enkel sei drauf und dran, eine respektable kirchliche Karriere zu machen, schien eine Kleinigkeit gemessen daran, dass sie ihm nach dem Tod seines Vaters die einzige uneingeschränkte und stetige Liebe seiner Kindheit hatte zuteilwerden lassen. Schließlich hatte er noch sein ganzes Leben vor sich, um seinen eigenen Wünschen nachzugehen. Was ihn in dieser abgelegenen Region jedoch erwartete, das hatte er in seinen schlimmsten Träumen nicht vermutet.
    Dabei hatte der Bischof ihm voller Vertrauen auf das Urteil seiner Mutter Zanetta sogar den Einzug seiner Einkünfte anvertraut, wenn man in diesem Zusammenhang überhaupt von Einkünften sprechen konnte. Das Bistum konnte im Jahr maximal 300 Zechinen einbringen. Eine Summe, die er selbst schon an einem Abend am Spieltisch beim Pharo gewonnen, aber leider in den folgenden Wochen auch wieder verloren hatte.
    Dabei waren die Pfarreien der Region mit ihrer Kollekte zu seinem großen Erstaunen ihrem Bischof gegenüber weitestgehend ehrlich. Bei seinen Reisen zu den einzelnen Kirchen war Giacomo überall als Stellvertreter des Bischofs mit großen Ehren empfangen worden. Die Leute wollten wegen der ihnen durch seinen Besuch erwiesenen Ehre sogar häufig bei ihm beichten, etwas, was er als einfacher Abbate ohne ewige Gelübde überhaupt nicht abnehmen durfte. Seine Proteste legte man aber als übertriebene Bescheidenheit aus, und irgendwann gab er es auf, die Sache richtigzustellen. Seine Neugier, was die eine oder andere Maid zu berichten wusste, hatte zu dieser Entscheidung sicher beigetragen. Nur waren es meist die Alten, die zu ihm kamen, Menschen, die keine schwere Arbeit auf den Feldern mehr zu leisten imstande waren. In ihre Beichte floss die von ihnen empfundene Schande ein, bei der Kollekte keinen einzigen Soldo geleistet zu haben, weil es einfach kein Geld im Haus ihrer Familie gab. Nach solchen Bekenntnissen war er beschämt und fühlte sich unangenehm an die eigene Sterblichkeit erinnert. Würde auch er einmal ein zahnloser alter Mann sein, der nichts Sündigeres mehr tun konnte, als auf seine Gicht und den bösen Nachbarn zu schimpfen?
    Wenn er im tiefen Süden des Landes auch auf andere Sinnesfreuden für Augen und Ohren gehofft hatte, weil einige der jungen Mädchen mit ihren kohlrabenschwarzen Augen, ihren überaus drallen Formen ihm durchaus anziehend erschienen, so hatten selbst diese nichts wirklich Interessantes zu beichten, da ihre Brüder, Väter oder Vettern mit eifersüchtigen Mienen sie auf Schritt und

Weitere Kostenlose Bücher