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Verfuehrung

Verfuehrung

Titel: Verfuehrung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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wenn Sie noch im Besitz all Ihrer Haare wären?« Erneut vermied er jeden Hinweis auf seine Nichten.
    »Hochwürdigster Vater, wie könnte ich nicht? Zu predigen ist meine Berufung.«
    »Tun Sie mir einen Gefallen«, meinte der Senator später, als Giacomo wieder bei ihm speiste, »und flechten Sie eine Versöhnungsgeste ein. Sie triumphieren ohnehin, aber das hilft Don Tosello, sein Gesicht zu wahren.«
    »Und warum sollte ich ihm dabei helfen wollen?«
    »Weil ein Edelmann niemanden tritt, der am Boden liegt, und Versöhnungsbereitschaft am Ende eines Streits zeigt«, entgegnete Malipiero ernst. Dazu hätte Giacomo manches sagen können, allem voran, dass er eine Menge Edelleute ihre Gegner hatte verhöhnen sehen. Zudem er selbst ohnehin kein Edelmann war. Aber zum einen hatte Giacomo den Senator tatsächlich gern, zum anderen überlegte er, dass er vielleicht selbst Nachsicht gebrauchen könnte, sollte die Predigt nicht so verlaufen, wie er sich das nun erhoffte. Wenn er jetzt boshaft war, dann würde ihm Malipiero in einem solchen Fall nicht mehr zur Seite stehen. Also willigte er ein, sein Konzept zu ergänzen.
    Am Morgen seines Auftritts hatte er eine Kehle, die so ausgedörrt war wie sonnengetrocknetes Heu. Die Kräutergetränke, die seine Großmutter ihm, wie sie schwor, nach einem Rezept ihrer Hexenbekannten aus Murano zubereitete, halfen nichts. Aber als er auf der Kanzel stand und den Mund öffnete, mit extravagant kurzgeschnittenem Haar, über einem Meer erwartungsvoll erhobener Gesichter, unter denen er auch Nannetta, Martina und ihre Mitschülerinnen aus dem Ospedale erkannte, wusste er, dass sein Glücksspiel gelingen würde. So musste seine Mutter sich fühlen, wenn sie auf der Bühne stand, dachte er und war doch froh, dass sie hier und heute nicht da war. Er brauchte sie nicht, sagte sich Giacomo. Er hatte sie nie gebraucht, wiederholte er sich ein Mal zu oft.
    Von der Kanzel begann er mit den Mahnungen, die er Don Tosello vorgelegt hatte, und sah, wie betroffen die Gemeinde auf den ersten Satz bereits reagierte. Dann aber ergänzte er, was nicht in seinem vorgelegten Konzept enthalten war. »Doch hat nicht selbst der Kirchenvater Augustinus, der diese harten Worte über Erbsünde und Fegefeuer sprach, laut seinen eigenen Erinnerungen inbrünstig gebetet: Herr, gib mir Keuschheit und Enthaltsamkeit – aber doch nicht jetzt! « Giacomo machte eine kurze Pause, während derer die Gesichter der Kirchgänger sich erhellten und entspannten. »Wer wollte sich nicht den heiligen Augustinus für seine Gebete zum Vorbild nehmen«, fügte er unschuldig hinzu, und ein höchst befriedigendes Glucksen kam auf.
    Mit Schwung ging er zu der Aussage Jesu über, der Sabbat sei für den Menschen da und nicht der Mensch für den Sabbat, und schloss gleich die Geschichte über die Ehebrecherin an. »Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein!«, zitierte er Christus, und die Mienen der Kirchgänger wurden gelassen und glücklich. Nun nahmen sie ihm sogar den alten Heiden Horaz ab, den er unter die Kirchenväter geschmuggelt hatte.
    Später berichteten ihm die Ministranten mit großen Augen, dass sie nicht weniger als dreißig Zechinen eingesammelt hätten, was wohl nur möglich war, weil sich ein paar Grimani und natürlich Seine Exzellenz, Senator Malipiero, und seine reichen Freunde in der Gemeinde befunden hatten. Aber nicht nur Geld war ihnen zugesteckt worden, sondern auch Dutzende kleiner parfümierter Briefchen.
    »Und das in meiner Kirche«, jammerte Don Tosello.
    »Keine Sorge. Sie sind nicht für Euch.«
    »Sie glauben wohl, mein Sohn, Sie könnten sich jetzt alles erlauben, wie?«
    »Ich weiß es nicht«, erwiderte Giacomo zu seiner Überraschung ehrlich und mit geradem Blick zu den Tauben, die ihnen vom Gebälk zusahen. Wie hieß es doch so schön: Sie säen nicht, sie ernten nicht, und der himmliche Vater ernährt sie doch. Vor allem in Venedig. Er grinste. »Aber ich freue mich schon darauf, es herauszufinden!«
    * * *
    Signora Lanti war äußerlich das genaue Gegenteil von Angiolas Mutter: dick, wo diese auf ihre Figur geachtet hatte, im bescheidenen schwarzen Witwenkleid, wo Lucia noch vor dem Ende des Trauerjahres und zur Zeit großer finanzieller Nöte Mittel und Wege gefunden hatte, elegant zu wirken. Signora Lanti hielt häufig einen Rosenkranz in der Hand, womit Lucia zwar am Sonntag in die Kirche gegangen war, aber ansonsten wahrlich nicht die Gewohnheit hatte, die Heiligen

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