Verfuehrung
nur die, welche schmückendes Beiwerk sind. Dann hätten wir keine Geldsorgen mehr«, sagte sie, aber sie beschleunigte ihren Schritt nicht, obwohl die Zeit knapp wurde, denn er hatte recht, was eine Begleitung betraf. Ein junger, gut gekleideter Mann, der alleine ausging und dazu noch zierlich wie eine Frau gebaut war, bat geradezu darum, ausgeraubt zu werden, selbst an Vormittagen, an denen die Mehrzahl der Diebe wohl ebenso ihren Rausch ausschlief wie diejenigen Bürger, die nicht von Frömmigkeit oder der Angst, als nicht fromm genug zu gelten, in die Kirchen getrieben wurden.
Die Anzahl der Armen in allen Städten, durch die sie kamen, schien mit jedem Jahr im gleichen Umfang wie bei den Dieben zu wachsen. Der ständige Krieg zwischen Österreichern und Spaniern wurde nun schon seit Jahren in italienischen Landen ausgefochten, eigentlich überall außerhalb des Kirchenstaats, so dass sich die Städte innerhalb des Kirchenstaats immer mehr füllten.
Bellino verstand nicht, warum die Österreicher und Spanier nicht in ihren eigenen Ländern kämpfen konnten. Petronio hatte sogar damit geliebäugelt, sich der einen oder anderen Armee anzuschließen, allein, weil dafür guter Sold versprochen wurde, aber seine Mutter war darüber so entsetzt gewesen, dass er die Idee wieder fallengelassen hatte. Insgeheim war Bellino erleichtert gewesen, dass es für Mama Lanti eine Grenze gab, die sie nicht überschreiten wollte. Natürlich galt der Soldatenberuf als ehrenhaft, während die Hurerei das schlimmste aller Gewerbe genannt wurde, aber als Soldat konnte man sterben, und wofür? Für irgendwelche Könige, die man nie zu sehen bekam, zumal sie noch nicht einmal die gleiche Sprache sprachen?
»Du bist nicht Manns genug, um das zu verstehen«, hatte Petronio beleidigt zu ihr gesagt, aber er war doch verdächtig schnell bereit gewesen, seine Soldatenidee wieder aufzugeben, als seine Mutter zu weinen anfing. Anfangs wollte er noch wissen, ob sie ihn nicht für mutig genug hielt, aber das war nur ein Rückzugsgefecht. Sie machte es ihm leicht, sein Gesicht zu wahren, und erklärte: »Du hast den Mut eines Löwen. Das ist für einen Offizier ein lässlicher Fehler, für einen Soldaten ist es aber zumeist ein tödlicher.« Den Grund sah er dann ein.
Bellino war sich bei Petronio nie wirklich sicher, ob er sie bei diesen gelegentlichen Sticheleien hänselte, weil sie ein Eunuch war oder weil er die Wahrheit kannte und sie als Mädchen betrachtete. Er hatte keinen anderen Namen als »Bellino« gebraucht und sich nie anders als ihr Bruder benommen, aber von allen Geschwistern war er derjenige, der am ehesten Erinnerungen an den ersten Bellino haben mochte.
Manchmal vergaß sie selbst, dass es einen Bellino vor ihr gegeben hatte. Für die Weihnachtszeit hätte es ein Engagement in Bologna für sie gegeben, ein Angebot, auf das Melani, der es vermittelt hatte, sehr stolz gewesen war, doch sie hatte Blut und Wasser geschwitzt und abgelehnt, ohne es ihm mit mehr als traurigen Erinnerungen an Appianino zu erklären und der Furcht, sich vor seinem Publikum mit ihm nicht messen zu können.
»Aber du wirst nicht als Erster Kastrat singen, sondern als junger Anfänger, was heißt, dass du nur die zweitwichtigste weibliche Rolle bekommst, du undankbarer junger Spund! Jeder weiß, dass junge Kastraten noch nicht so gut sind wie ein Mann über zwanzig, deswegen gibt man ihnen ja die Frauenrollen, also wäre das kein Vergleich!«
Sie stellte sich vor, wie ihre Mutter – wie Angiolas Mutter – im Publikum saß, zusammen mit Falier, und wie Bellino entdeckt, entkleidet und gestäupt wurde, um nie wieder ein Engagement irgendwo zu bekommen, und blieb störrisch. Seither war Melani so wütend auf sie, dass er sich weigerte, ihr weitere Engagements zu besorgen. Für den Karneval nach Ancona engagiert worden zu sein hatte sie allein dem Umstand zu verdanken, dass der Theaterbesitzer sie in Rimini gehört hatte.
An Orten wie Ancona fiel es ihr dagegen leicht, nur Bellino zu sein. Während sie mit Petronio zur Kathedrale spazierte, fuhren mehrere Kutschen an ihnen vorbei, und ein paar der Stadtpatrizier waren sich nicht zu schade, Bellino zu grüßen. Bellino grüßte zurück, grüßte sogar die Damen mit einem einschmeichelnden Lächeln, die Hand kurz auf das Herz gepresst. Bellino hatte während des Karnevals ein paar Liebesbriefe bekommen, die nicht von männlichen Zuhörern stammten, und es war für sie mittlerweile nicht mehr
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