Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Verfuehrung

Verfuehrung

Titel: Verfuehrung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
Vom Netzwerk:
wenn es jetzt nicht so aussieht.«

    Zur Vesper kamen längst nicht so viele Leute in die Kirche, wie im Morgengottesdienst gewesen waren, und natürlich gab es keinen Chor. Melani fand sie neben der Orgel kauernd, als er eintrat, um sie für die Gemeinde zu spielen.
    »Was um alles in der Welt machst du hier? Jetzt brauche ich dich doch nicht.«
    »Appianino ist tot«, sagte sie. Ihre Augen waren trocken. Sie wartete schon die ganze Zeit darauf, dass endlich die Tränen kamen, wie nach dem Tod ihres Vaters, aber alles, was sie empfand, war eine unendliche Taubheit. Es war nicht Trauer oder Verzweiflung, sondern die Abwesenheit jedes Gefühls, das sie erschreckte. Deswegen war sie hier. Wenn ihr Melani auf die Finger schlug, spürte sie wenigstens etwas.
    »Grundgütiger«, sagte er und setzte sich neben sie. »Bist du sicher? Klatsch kann sich irren.«
    »Ich habe einen Brief«, murmelte sie. Sie hatte ihn noch nicht gelesen. Wenn sie ihn öffnete, wenn sie las, was auch immer Appianino diktiert hatte, dann würde es endgültige Wirklichkeit. Melani bekreuzigte sich.
    »Gott sei seiner Seele gnädig. Er hätte einer von den ganz Großen werden können, ein zweiter Farinelli.«
    »Er war ein erster Appianino, und er war einer der ganz Großen!«, begehrte sie auf und fragte sich, ob der winzige Funken Empörung inmitten der tauben Gräue in ihrem Inneren Gefühl war. Dann wurde ihr bewusst, dass sie »war« gesagt hatte, und sie presste sich die Hand auf den Mund.
    »Er war gut«, sagte Melani friedfertiger, als sie ihn je erlebt hatte, »besser, als ich je hätte sein können. Aber ganz oben war er noch nicht.«
    Sie legte den Kopf auf ihre hochgezogenen Knie und sagte: »Sie sind ja nur eifersüchtig.«
    Statt wütend zu werden und mit dem Rohrstock nach ihr zu schlagen, blies Melani die Backen auf, seufzte und sagte: »Das war ich. Aber jetzt? Glaub mir, niemand, der seinen Verstand noch beisammen hat, beneidet die Toten.« Er klopfte sich auf seinen Bauch. »Und es könnte mir schlechter gehen.«
    »Ich wünschte, ich wäre tot«, sagte Angiola, aber sie sagte es so leidenschaftslos, wie um den Satz auszuprobieren; er war nicht wirklicher als alles andere, was heute geschehen war, von dem Moment an, als die Welt ein weiteres Mal unter ihr zusammenstürzte. Doch so tonlos sie auch gesprochen hatte, es genügte, um Melani wieder in sein altes Selbst zu verwandeln. Er rückte von ihr weg und versetzte ihr mit der flachen Hand einen harten Schlag ins Gesicht.
    »Jugend ist keine Entschuldigung, um derart dumm daherzureden! Zur Persönlichkeit reift man nur in den Tälern des Lebens, nicht durch Erfolg«, zischte er. »Mir ist gleich, wie sehr du für ihn geschwärmt hast. Du bist gesund, du musst dir nicht den Kopf zerbrechen, wo dein nächstes Brot herkommt, und du hast Gold in der Kehle. Dafür dankt man Gott auf den Knien, statt sich im Selbstmitleid zu suhlen wie ein Schwein in seinem Kot!«
    Sie spürte, wie etwas in ihren Augen stach und brannte, und als die erste Träne ihre Wange herunterrollte, war sie so erleichtert, dass sie Melani umarmte. Jetzt musste es besser werden. Nach den Tränen wurde es immer besser. War es nicht so?
    Er war überrascht, aber er stieß sie nicht zurück und strich ihr ein-, zweimal über den Kopf. Erst dann sagte er: »Die Vesper beginnt, und man bezahlt mich hier immer noch dafür, dass ich die Orgel spiele.«
    Sie ließ ihn los, und er knurrte. »Beim Aufstehen helfen könntest du mir schon. Es ist nicht so leicht für unsereiner!«
    Während ihr die Tränen weiter über das Gesicht strömten, sprang sie auf und hielt ihm beide Hände entgegen, um ihn in die Höhe zu ziehen. Er war sehr viel schwerer als sie, und es fiel ihr nicht leicht, aber schließlich standen sie beide heftig atmend auf den Beinen, und er strich ihr ein weiteres Mal über den Kopf, ehe er sich an die Orgel setzte.
    Erst nachdem er die ersten beiden Lieder für die Gemeinde gespielt hatte und der Pfarrer mit den Responsorien begann, fragte Angiola leise: »Halten Sie meine Stimme wirklich für Gold?«
    »Du weißt, dass es so ist«, sagte Melani ärgerlich. »Alle würden, wenn sie könnten, dir das Gold aus deiner Kehle stehlen. Seit ich dich das erste Mal singen gehört habe, bin ich so eifersüchtig, dass ich schreien könnte, und Neid ist die aufrichtigste Form der Anerkennung. Wenn du den Raum betrittst, geht für alle Menschen die Sonne auf, schon bevor du singst, und das ist ganz selten. Deine Stimme

Weitere Kostenlose Bücher