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Verfuehrung

Verfuehrung

Titel: Verfuehrung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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hat jetzt schon die Leichtigkeit einer Frau, sie hat Glanz, den Schmelz eines Jungen, doch dabei die Kraft und den Umfang eines Mannes. Ich habe niemals vorher und seither so viel Verführung bei einem jungen Sänger gehört. Du wirst es bis an die Spitze schaffen, und wenn ich dich dahin prügeln muss. Weißt du, warum ich Appianino nicht zu den Größten zähle? Weil seine Stimme zwar bezaubert hat, aber nicht mehr. Er hat immer noch etwas in sich zurückgehalten. Eine Stimme, die alles gibt, kann Menschen in den Wahnsinn treiben oder die Wahnsinnigen in die Gesundheit zurückholen, und man hat das Gefühl, Gott selbst hält den Atem an, um sie zu hören. Und du hast sie.«
    Die Menschen erobert man nicht mit Musik. Da gibt’s doch nur zwei Dinge, die jeder von jedem will: Geld und Schwänze, hatte Petronio mit seiner Jungenstimme gesagt, die einen Monat nach ihrer Ankunft in Rimini in den Stimmbruch geraten war und ihn so ein für alle Mal vor einer Kastration bewahrte. Petronio und seine Schwestern, die trotzdem verkauft worden waren, nur auf andere Weise. Hatte er recht, und das Leben bestand wirklich nur aus Geld und Fleisch, oder hatte Melani recht, und es gab etwas Größeres in den Menschen, etwas, das Musik erschuf und dem Dasein einen Sinn verlieh?
    Appianinos Stimme, als er auf dem Weg durch die Arkaden bis ins Santuario kunstvolle Verzierungen zu einer Grundmelodie improvisierte, war noch so lebendig in ihr wie damals, als sie ihn zum ersten Mal gehört hatte, und es war ein Wunder für sie gewesen. Aber sie würde ihn nie wieder hören. Wenn ihre Stimme wirklich die von Melani prophezeite Höhe erreichte, dann würde er es nie erfahren, würde sich seine Stimme nie mit der ihren vereinigen.
    Sie hörte den Pfarrer unten aus den Psalmen zitieren, und etwas packte sie, das nicht nur Tränen waren.
    »Wenn ich ein Requiem für Appianino bestelle und für ihn dabei singe, wird Gott den Atem anhalten.«
    »Mmmm«, brummte Melani. »Totenmessen kosten Geld. Er hat für dich bezahlt, das weißt du, Unterhalt bei deiner Familie und Lehrgeld bei mir für ein Jahr, dann wieder für ein Jahr, und erneut für weitere zwölf Monate. Aber die gehen auch irgendwann zu Ende. Wie also willst du eine Messe eigens für Appianino bezahlen?«
    »Ich dachte, ich habe Gold in der Kehle«, entgegnete Angiola, und der Funke, der vorhin in ihr geschwelt hatte, wurde ein wenig stärker. Melani hatte recht. Der Tag würde seinen Lauf nehmen, ob sie aufstand oder nicht, das Leben ging immer weiter, auch für sie.
    »Wenn Sie bereit sind, mich zum Erfolg zu prügeln, dann können Sie mir auch Geld für ein Requiem vorstrecken. Und mir mehr Auftritte verschaffen. Und mir etwas von dem Gehalt abgeben, das man Ihnen bezahlt, wenn ich an Ihrer Stelle die Orgel spiele oder weitere Solopartien singe.«
    »Werde nicht unverschämt, Bellino«, sagte Melani, doch Zufriedenheit lag in seiner Stimme und sprach aus der Wucht, mit der er sich in das nächste Lied auf der Orgel stürzte.
    Bellino, dachte sie. Es war das erste Mal, dass sie den Namen hörte, ohne ihn als Teil einer Lüge zu verstehen. Angiolas Hoffnungen und Liebe waren ihr genommen worden, aber Bellino war noch da, und Bellino hatte nur einen Lehrer verloren, keinen Geliebten. Bellino war kein dummes kleines Mädchen, das die Menschen nicht verstand, sondern wie Appianino, wie Melani ein Kastrat, der bereits wusste, wie die Menschen waren, und der dem Leben trotzdem Schönheit abrang. Wenn sie das Requiem sang, würde sie nicht nur Appianino beerdigen, sondern auch Angiola.
    Von nun an würde sie Bellino nicht nur spielen, sondern Bellino sein.

II
    Bellino
    D er Aschermittwoch fand die meisten Bewohner Anconas, die am Vortag den Karneval noch ausgelassen verabschiedet hatten, mit Kopfschmerzen in ihren Betten. Das Bett in Bellinos Zimmer im besten Gasthaus vor Ort war bequem und sauber genug, dass sie liebend gerne der Mehrheit gefolgt wäre, doch sie hatte ein weiteres Engagement. Der Theaterbesitzer, der sie für die Karnevalszeit engagiert hatte, war nicht bereit gewesen, mehr als fünfzig römische Taler pro Tag zu zahlen, was gerade einmal einer Zechine entsprach. Er erwartete jedoch, dass sie an jedem Tag und zu jeder Vorstellung ein anderes Kostüm trug und jedes auch selbst bezahlte. Das war teuer bei ihren Frauenrollen, die sie ihres Alters, aber mehr noch ihres guten Aussehens wegen immer wieder bekam. Sie hatte Petronio und Marina mitgenommen, da der Karneval ihnen

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