Verfuehrung
die Gelegenheit bot, als Tänzer aufzutreten, doch das bisschen Geld, das die beiden damit verdienten, hatte bei ihnen fast nicht für die Kostüme gereicht, die auch von ihnen gefordert worden waren. Zudem musste Bellino für drei Zimmer bezahlen, denn Cecilia und ihre Mutter waren nicht gewillt gewesen, zurückzubleiben.
Der Februarmorgen war kalt genug, um die oberste Wasserschicht in der Schüssel auf ihrem Tisch gefrieren zu lassen. Bellino zog eine Grimasse und drückte die Eisschicht entzwei; dann tauchte sie die Hände ein und bespritzte sich das Gesicht. Zum Wachwerden taugte die Kälte immerhin. Sie reinigte sich rasch und begann, sich anzukleiden. Das Gesicht, das ihr im Spiegel entgegenblickte, wirkte ein wenig abgespannt. Sie war während des Karnevals nicht viel zum Essen gekommen. Selbst ihre langen Wimpern konnten die Müdigkeit in ihren Augen kaum verdecken. Die Pausbacken ihrer Kinderzeit waren letztes Jahr schon in die Wangen einer Frau übergegangen, ohne ihre Grübchen zu verlieren. An der Stupsnase, die sich leicht kräuselte, wenn sie lachte, ließ sich aber nichts ändern. Ihr schwarzes Haar war gerade lange genug, um für einen modisch kurzen Zopf zu reichen, und ließ sich bei Bedarf immer noch gut unter einer Perücke verbergen. Sie bändigte ihre Locken mit Pomade und zog sich den dunkelbraunen Rock und die schwarzen Kniehosen an, die ihr für den Aschermittwoch passend erschienen.
Der junge Mann im Spiegel sah alt genug aus, um es mit der Welt aufzunehmen, selbst wenn er gestern dem Wein etwas zugesprochen hatte. Sie wünschte sich nur, sie könnte den Federhut tragen, den sie für ihre Opernrollen benutzte; er ließ sie größer und kräftiger erscheinen und war breit genug, um ihr Schatten zu spenden. Heute Morgen schien die Sonne so hell vom wolkenlosen Himmel, dass es unmöglich war, nicht die Augen zusammenzukneifen und sich ins Bett zurück zu wünschen.
Doch es war nötig gewesen, das Angebot, in der Kathedrale zu dem morgendlichen Bußgottesdienst zu singen, anzunehmen. Einen Moment lang war sie versucht, ihr frühmorgendliches Elend mit Cecilia und Marina zu teilen und sie ebenfalls aus dem warmen Bett zu scheuchen, in dem sie mit ihrer Mutter im nächsten Raum schliefen, aber sie war dafür nicht herzlos genug. Petronio dagegen hatte einen dröhnenden Kopf durchaus verdient, nachdem er gestern Rotwein über das schönste ihrer neuen Kostüme geschüttet hatte. Sie schlich zu seinem Zimmer, um niemanden sonst zu wecken, öffnete die Tür so leise wie möglich, um sie dann knallend wieder ins Schloss fallen zu lassen.
Nicht ein, sondern zwei Köpfe fuhren in dem Bett vor ihr in die Höhe. Natürlich war er nicht alleine. Sie hätte es sich denken können.
»Zum Henker …«, quengelte eine Stimme, die so verschnupft und verwöhnt klang, dass sie nur einem der hiesigen Aristokraten gehören konnte. Petronio stöhnte nur und ließ sich wieder auf sein Kissen fallen.
»Petronio, ich brauche jemanden, der mich in die Kirche begleitet«, sagte Bellino mitleidlos.
»Du brauchst einen Knebel in den Mund«, klang es undeutlich aus dem Kissen.
»Oh Gott, ist es schon Zeit für den Bußgottesdienst? Mein Schwiegervater hat gesagt, dass wir dieses Jahr hingehen müssen«, stöhnte der Mann neben Petronio. »Du kleiner Schurke, du hast doch versprochen, mich rechtzeitig zu wecken!«
Am Ende mussten sie ihm beide in sein verknittertes prächtiges Gewand vom gestrigen Ball helfen. Dann hastete er davon, während Petronio in seine Hosen schlüpfte.
»Schau mich nicht so an«, sagte er zu ihr. »Tanzen bringt nun einmal nichts ein, außer Gönnern. Du hättest auch mehr als fünfzig Taler bekommen, wenn du dem Theaterbesitzer einen geblasen hättest.«
»Ich bin wählerischer«, gab sie zurück. »Außerdem gilt die Leidenschaft des Theaterbesitzers nur Frauen, und das weißt du deshalb so genau, weil du versucht hast, aus ihm ebenfalls etwas Geld herauszuholen. Er hat mir deswegen Vorwürfe gemacht. Der Ausdruck »unerhörte Frechheit« fiel. Er hat sogar versucht, deswegen mein Gehalt nachträglich herunterzuhandeln.«
»Siehst du, deswegen hättest du ihm einen blasen sollen.«
Sie gab es auf und verließ den Raum. Er rannte ihr hinterher. »Bellino, warte doch«, sagte er. »Ein Primo Uomo geht nicht alleine aus. Ich gehe mit dir.«
»Um ein Erster Kastrat zu sein, bräuchte ich ein Engagement an einer guten Oper, um endlich die Arien singen zu können, die auffallen, und nicht
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