Verführung auf Burg Kells (German Edition)
unglücklich, sie leidet nicht. Sie liebt Nick über alles, und die Klosterbrüder verehren sie wie eine Heilige. Sie begleitet die Mönche auf ihren Krankenbesuchen, da sie große medizinische Kenntnisse besitzt. Es ist sehr merkwürdig, dass sie sich daran erinnert, was sie einmal gelernt hat, sie kann lesen und schreiben, sie spricht Latein, kennt alle Arzneipflanzen, aber sie weiß nicht, wer sie ist, woher sie stammt und wie sie hierher gekommen ist. Aber was ich höchst interessant finde und mich zuversichtlich stimmt, ist die Tatsache, dass sie keinen Spiegel besitzt, in dem sie sich betrachten könnte, sich aber daran erinnert, dass sie früher so ausgesehen hat wie du. Das ist meiner Meinung nach ein ermutigendes Zeichen.“
„Ja, du hast Recht. Denkst du, sie könnte mich je wieder als ihre Tochter akzeptieren?“
„Dich zu akzeptieren ist eine Sache, auch wenn sie sich nicht erinnert, aber mit dir nach Castle Kells zu gehen, ist eine andere Sache. Ich vermute, das hängt von Nicks Zukunft ab. Ich bin sicher, dass sie ohne ihn nicht von hier fortgeht.“
„Ja“, meinte Ebony und entzog sich ihm sanft. „So wird es sein.“
Die friedliche Abendstimmung über der Abtei von Lanercost war eigentlich zu schön, um sie mit einer Diskussion über Ebonys Konflikte zu stören, doch das war genau der Grund, warum Abt William sie gebeten hatte, ihn auf einen Spaziergang durch die Gartenanlagen des Klosters zu begleiten. „Die Berichte von Alex beim Nachtmahl lassen kaum Zweifel daran, dass Frau Marie Eure Mutter ist, Lady Jean Nevillestowe aus Carlisle. Es ist gut möglich, dass sie den weiten Weg bis in unsere Gegend zu Fuß zurückgelegt hat oder so lange herumgeirrt ist, bis ich sie fand. Schon bei Eurer Ankunft fiel mir die Ähnlichkeit auf.“ Der Abt öffnete das Holzgatter in den Obstgarten und schlenderte mit Ebony den Weg zum Fluss und den Fischteichen entlang, die im letzten Schein der untergehenden Sonne rosig schimmerten.
Ebony hatte gemeinsam mit ihrer Mutter das Nachtmahl in einer Stube über der Kapelle des Königs eingenommen, in die Frau Marie sich gewöhnlich mit einer Näharbeit oder einem Buch zurückzog und in der sie Nicholas Unterricht erteilte. Die beiden Frauen hatten über Themen gesprochen, von denen Ebony sich erhoffte, sie würden persönliche Erinnerungen auslösen, und ein- oder zweimal glaubte sie, einen Funken der Erkenntnis in ihren Augen aufleuchten zu sehen.
Mit rührender Einfühlsamkeit hatte der väterliche Abt Ebonys Verlangen gespürt, mit einem unbeteiligten Dritten über das schwierige Thema zu sprechen, und er war zu ihr gekommen, um sie zu einem Gespräch einzuladen, unter dem Vorwand, ihr das hohe Steinkreuz zu zeigen, das vor Jahrhunderten bei der Gründung des Klosters errichtet worden war. Er schritt hoheitsvoll neben ihr her mit wehender weißer Haarmähne, in seiner schwarzen Kutte und einem weiten weißen Kapuzenumhang, der sich im Wind blähte. Sein zerfurchtes Gesicht wies auf einen lebenslangen spirituellen und körperlichen Kampf hin, denn auch die Abtei war in den letzten Jahren nicht von Überfällen verschont geblieben, und die Bruderschaft war mittlerweile auf dreizehn Mönche geschrumpft.
„Es ist eine erschütternde Erfahrung“, sagte Ebony.
„Die Mutter endlich gefunden zu haben?“
„Ja, Vater. Zumal ich nicht damit gerechnet habe. Aber noch tiefer berührt mich, dass ich sie nicht in die Arme schließen darf. Versteht Ihr? Sie hat mir so sehr gefehlt, man hat mich so lange daran gehindert, sie zu suchen, und nun fühle ich mich nutzlos und hilflos, weil sie mich gar nicht braucht.“
Am großen Fischteich angekommen, verlangsamten die beiden ihre Schritte. Gelegentlich kräuselte ein schnappendes Fischmaul die glatte Wasseroberfläche. „Und Ihr habt den Wunsch, gebraucht werden“, sagte er leise. „Das ist verständlich und ganz natürlich. Eure Mutter in diesem verwirrten Zustand vorzufinden war gewiss ein großer Schock für Euch.“ Er legte eine Pause ein, blickte sinnend ins Wasser, wo ein silbriger Fischleib hochschnellte, die Wasserfläche durchbrach und eine Mücke schnappte. „Alex sagte mir, dass Ihr erst heute von Nicholas’ Existenz erfahren habt. Wie gefällt er Euch?“
In Ebonys Augen leuchtete ein mütterlicher Glanz auf. „Er ist ein entzückendes Kind“, antwortete sie. „Er und Sam könnten …“ Sie war schon wieder zu voreilig. Er würde denken …
was
würde er denken?
„Könnten wie Brüder
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