Verführung der Finsternis: Roman (German Edition)
Geschmeidigkeit und Anmut, die noch so viele triste Kleidungsstücke nicht verbergen konnten. Ihr dunkles Haar war ordentlich gescheitelt und zum größten Teil unter einem weißen Tuch verborgen, ihre Augen waren blau, und sie hatte eine entzückende kleine Stupsnase, einen Mund, der ein wenig zu groß für ihr Gesicht war, und ein weiches, rundes Kinn, in dem ein Grübchen erschien, wenn sie lächelte oder lachte.
Er kannte dieses Gesicht, hatte es in seinen Träumen gesehen, und trotzdem sah sie ihn wie einen Fremden an.
Warum? Weshalb log sie und gab nicht zu, dass sie ihn kannte? Oder sah er nur Gespenster? Hungerte er so sehr nach einer Vergangenheit, dass er nach jedem noch so dünnen Strohhalm griff?
Die Fragen gingen ihm endlos im Kopf herum, erbrachten aber keine Antworten, sondern nur noch mehr Fragen. Sein brennender Blick glitt über das Labyrinth von Narben an seinen Armen, über die langen, hässlichen Schnitte, die seinen Oberkörper verunzierten, und er schloss angewidert die Augen.
Nein, diese Sabrina war der Schlüssel zu seiner vergessenen Vergangenheit. Trotz aller Ungewissheiten wusste er das mit absoluter Sicherheit. Aber welche Tür würde sie öffnen? Und wollte er wirklich wissen, was dahinterlag?
»Powea raga korgh. Krea raga brya.«
Über die geistige Verbindung zu ihrer Patientin vermittelte Sabrina ihr Ruhe, Frieden und Gesundheit. Auf die gleiche Weise entspannte sie die Muskeln der Kranken und löste den Schleim in ihrer Brust. Es dauerte nur wenige Momente, bis der Zauber die verheerenden Hustenanfälle linderte, die die gebrechliche Priesterin quälten, und ihren Atem zu einem ruhigen, gleichmäßigen Rhythmus verlangsamte.
Zufrieden unterbrach Sabrina die hauchdünne Verbindung und zog Schwester Moira die Decke bis unter das Kinn. Es würden Stunden vergehen, bevor die verschleimten Lungen der alten Frau sie wieder zu quälen begannen. Bis dahin würde sie ruhig schlafen.
Sie war die Letzte auf Sabrinas Liste. Schwester Netta schlief, ihr hohes Fieber ging langsam zurück. Und Schwester Clea musste nur wieder zu Bett gebracht werden, falls sie sich erhob und nach ihrem Bruder Paul fragte. Er war Fischer gewesen und seit etwa fünfzig Jahren auf See verschollen, doch in ihren Wahnvorstellungen blieb Clea zwölf Jahre alt, und die Jahrzehnte waren kaum mehr als ein Traum für ihr verwirrtes Hirn.
Würde es auch bei dem Mann so sein, der halb ertrunken am Strand gefunden worden war? Sie hatten ihm das Leben zurückgegeben, aber nicht seine Erinnerungen. Die blieben verloren. Für Tage? Wochen? Für immer? Das war unmöglich vorauszusagen, und als Sabrina es ihm erklärt hatte, war sein Gesicht bei jedem ihrer Worte grauer geworden, und Leere und Verzweiflung hatten sich in seine schwarzen Augen eingeschlichen.
Er hatte sich alle Mühe gegeben, ruhig zu bleiben in ihrer Gegenwart, doch seine innere Anspannung hatte die Luft zum Knistern gebracht wie ein Gewitter und seine Furcht den ganzen Raum zwischen ihnen vibrieren lassen. Sabrina litt mit ihm, so wie die Hilflosigkeit anderer sie immer schmerzte. Sie hasste es, nicht mehr für ihn tun zu können. Sie brauchte das Gefühl, die Dinge in Ordnung zu bringen oder zumindest doch zu bessern. Aber die Krankheit dieses Mannes war etwas, was sie nicht heilen konnte. Nicht einmal mit all ihren Anderen -Talenten.
Ihre Gedanken führten sie zu seiner Tür zurück. Oder, richtiger gesagt, zu der Tür zu einem der Ruheräume, die abseits der Zimmer der bejahrten Schwestern lagen und getrennt von den wenigen Patienten, die sich auf der Hauptstation des Hospitals erholten.
Sabrina drückte ihr Ohr an die massive Holztür, aber kein Laut kam aus dem Zimmer dahinter. Schlief er ruhig? Oder wälzte er sich im Bett herum und kämpfte gegen den Verrat seines geschwächten Verstandes? Eigentlich sollte er ruhen. Machte er gerade all ihre Arbeit zunichte?
Leise drehte Sabrina den Schlüssel um und öffnete einen Spalt die Tür.
Ein grauer Lichtstrahl, der aus dem hohen Fenster auf die Pritsche des Mannes fiel, erzeugte einen starken Kontrast zwischen seinen grobknochigen Gesichtszügen und den Augenhöhlen, verlieh seinem schwarzen Haar einen blauen Schimmer und versilberte das Gewirr seiner unzähligen Narben.
Alte und neue. Ältere, verblasste Linien und gerötete, noch stark hervortretende Narben. Es war, als hätte jemand jeden grausamen und bösartigen Impuls am Körper dieses Fremden ausgelassen. Sein Oberkörper hatte das Schlimmste
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