Verführung der Nacht: Ein Vampirthriller (German Edition)
Teppich und nagele ihn fest wie er vorhin mich. Aber ich spiele nicht mit ihm. Ich reiße die weiche Haut über der Halsschlagader auf und trinke.
Ein berauschender, schwindelerregender Strom von Farben, Geräuschen und Gefühlen bricht über mich herein. Anders als bei Avery und doch genauso. Nicht sexuell, sondern essenziell. Williams’ gesamte Lebenserfahrung, seine Erinnerungen, seine persönliche Geschichte, ich brauche alles nur in mich aufzunehmen. Und ich nehme es mir. Ich lasse es in mich und durch mich hindurchfließen. Ich krieche in seinen Geist und niste mich dort ein. Ich siebe seine Gedanken durch wie Mehl, bis ich finde, was ich will.
Erst dann höre ich auf zu trinken.
Er hat David nicht. Er weiß nicht, wer ihn hat.
Ich ziehe mich zurück und rüttele an seinen Schultern, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Er wehrt sich schon lange nicht mehr gegen mich. Sein Geist ist völlig offen und lethargisch. Ich lese dort etwas, das ich nicht erwartet hätte. Er nimmt den Tod an. Willst du, dass ich es beende?
Er öffnet die Augen. Du bist stärker. Tu, was du willst.
Wieder einmal trifft es mich unvorbereitet. Das verstehe ich nicht. Du hast Jahrhunderte gelebt. Und jetzt bist du bereit zu sterben?
Ich bin bereit, deinen Willen zu akzeptieren.
Er spricht, als bete er zu einer Gottheit. Irgendetwas an seinem Tonfall, seiner völligen Ergebenheit, erschüttert mich. Warum sagst du das?
Er streckt die Hand aus, umfasst meinen Hinterkopf und zieht mich sacht zu sich herab. Seine Stimme klingt wie ein Flüstern an meinem Ohr. Du hast jetzt die Macht. Bring es zu Ende.
Ich fahre zurück, als hätte er mich geschlagen, biege den Rücken durch, um forschend in sein Gesicht zu sehen. Was soll das heißen?
Er nickt und lächelt, ein trauriges, liebliches Lächeln. Avery hatte recht. Du bist die Eine.
Was bin ich?
Frag ihn.
Und dann ist er weg. Ich habe noch nie etwas Derartiges erlebt. Sein Geist schließt sich vollkommen, nein, er ist weg, wie die Flatline auf dem Monitor, wenn der Hirntod eintritt. Seine Augen sind offen und starr, sein Körper steif.
Ich öffne den Mund, um zu schreien, und Avery ist da.
Kapitel 33
A very zieht mich von Williams weg. Was hast du getan?
Doch weder sein Tonfall noch seine Miene wirken zornig oder verbittert. Ich blicke in seinen Geist, finde aber auch dort nichts, was ich lesen könnte. Verzweiflung überkommt mich. Ich weiß es nicht.
Er drückt mich an seine Brust und wiegt mich wie ein Kind. Ist schon gut.
Ich will mich in Avery verkriechen, mich von seinen starken Armen vor einer Gefahr schützen lassen, die ich nicht einmal begreife. Aber ich weiß, dass das nicht möglich ist. Die Gefahr liegt in mir selbst. Widerstrebend trete ich zurück.
Ich weiß nicht, was passiert ist.
Averys Blick gleitet von Williams’ Gesicht zu meinem. Du hast ihn doch nicht leer getrunken?
Meine Augen weiten sich. Das ist eine einfache Frage, aber sie deutet an, dass Avery weiß, ich hätte Williams leer trinken können, und das überrascht mich. Nein. Er hat mit mir gesprochen. Kurz bevor –
Etwas regt sich in Averys Geist, verschiebt sich ein wenig. Was hat er gesagt?
Er schirmt nun seine Gedanken ein wenig ab, aber diesmal ist es anders. Es geht nicht nur darum, dass ich sie nicht lesen soll – er beschützt etwas. Sich selbst? Vor mir?
Er runzelt die Stirn. Sag es mir, Anna. Was hat er gesagt?
Ich habe es nicht verstanden. Er hat gesagt: »Du bist die Eine.« Dass ich die Macht hätte. Er hat gesagt, ich solle dich fragen, was das bedeutet. Und dann war er weg. Avery, ist er tot?
Avery geht zu Williams, kniet sich neben ihn und drückt eine Hand auf seine Brust. Er ist nicht tot.
Was dann?
Er ist in Stasis.
Stasis? Was bedeutet das?
Avery fährt sich mit der Hand übers Gesicht, als sei er plötzlich sehr müde. Das geschieht manchmal mit uns. Es ist ein Rückzug aus der Realität. Eine Art vorübergehender Stillstand aller Körperfunktionen. Vampire versetzen sich in diese Starre, wenn sie unter starkem Druck stehen oder spüren, dass sie dem Tode nahe sind. Er hat befürchtet, du würdest ihn töten.
Ich erschauere. Ich habe auch befürchtet, dass ich ihn töten würde. Ich wollte es. Er weiß nicht, wo David ist oder wer ihn hat, und doch hätte er mich belogen, wenn ich mir diese Information nicht einfach genommen hätte.
Ich hebe den Blick und sehe Avery an. Er beobachtet mich genau, und ein düsterer Ausdruck zieht seine Mundwinkel nach unten. Er
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