Verführung der Schatten
Benehmen bei sich zu suchen, hatten nach irgendeinem Fehler in ihrer Erziehung geforscht, ob sie irgendetwas gebraucht hätte, das sie ihr nicht geben konnten. Ihre Mom hatte Holly vor ihrem Tod noch um Verzeihung gebeten …
Bei dieser Erinnerung vergrub sie ihr Gesicht in den Händen.
„He, Halbling!“ Cade setzte sich rasch neben sie. „Was ist denn los?“ Sie antwortete nicht. „Ich bin nicht gerade die Art von Mann, die bei so was gut ist, also beim … Trösten oder so. Aber vielleicht … äh, willst du, äh, vielleicht mit mir reden, was da gerade so in deinem Kopf vorgeht?“
Nach einer ganzen Weile sagte sie: „Das alles ist so verwirrend. Ich meine, gestern Abend wurde ich unter Drogen gesetzt und gekidnappt und dann …“ Sie verstummte.
„Und dann was? Erzähl mir, was mit dir passiert ist.“
Ihre Stimme war jetzt nur noch ein Flüstern. „Es war so grauenhaft. Ich bin aufgewacht und ich war … nackt. Sie hatten mich komplett ausgezogen, für irgend so ein Ritual. Da waren diese ganzen Männer, die mich beobachteten. Ich hab versucht, vernünftig mit ihnen zu reden, habe sie angefleht, mich gehen zu lassen, aber sie haben nur gelacht und mich ignoriert. Dann, als das Ritual begann, habe ich losgeschrien.“
„Walküren schreien nun mal.“
Sie nickte. „Lauter als alles, was ich je gehört habe. Und die Glaskuppel über mir ist zerbrochen. Dann hat mich ein Blitz direkt in die Brust getroffen und mich gar nicht mehr losgelassen. Ab dann kann ich mich nicht mehr an viel erinnern. Ich weiß nur noch, dass ich diese schreckliche Wut gespürt habe, diesen unbezwingbaren Drang, jemandem Gewalt anzutun.“
Seit wann lag denn seine Hand auf ihrem Rücken? Sie war groß und warm, und er rieb ihr damit sanft den Rücken auf und ab. „Du hast verdammt viel durchgemacht. Es ist ganz normal, so zu reagieren.“
„Normal für eine Walküre oder für einen Menschen?“, fragte sie und schniefte. „Ich kenn mich nämlich mit beidem nicht besonders gut aus, weil ich niemals ganz und gar das eine oder das andere gewesen bin.“
Erst in diesem Moment wurde ihr bewusst, dass das die reine Wahrheit war. Das bedeutete, dass Holly alles neu herausfinden musste. Wie sah ihre wahre Persönlichkeit aus? Sie erkannte sich selbst nicht mehr wieder.
Genau wie Nïx gesagt hatte.
Und Holly wusste, dass die Einführung neuer Variablen in Abwesenheit einer Konstante, mit deren Hilfe man sie berechnen konnte, garantiert zu Chaos führte. „Ich kann’s nicht leiden, wenn meine Routine unterbrochen wird. Ich mag keine Überraschungen. Selbst wenn ich mal einen richtig guten Tag habe, kann ich nicht besonders gut damit umgehen.“
„Vielleicht kannst du ja nur deshalb nicht so gut damit umgehen, weil du noch keine Erfahrung damit hast.“
„Nein, ich habe eine Störung …“
„Okay, du ordnest gerne Dinge. Was ist jetzt so schlimm daran?“
Sie runzelte die Stirn. Holly hatte gehört, wie ihr Vater genau dasselbe zu ihrer Mutter gesagt hatte, als sie über die Medikamente geredet hatten, die der aufgeblasene Seelenklempner ihr verschreiben wollte.
Holly schüttelte den Kopf. „Bei dir klingt es so belanglos. Aber es hat Zeiten gegeben, da konnte ich nicht mal aus dem Haus gehen, aus lauter Angst, in ein Gewitter zu geraten oder mich von irgendeinem leuchtenden Klunker hypnotisieren zu lassen. Und jetzt habe ich gar keine Ahnung mehr, wie ich reagieren werde. Ach, Cadeon, was für eine Walküre normal ist, kann für mich nicht normal sein.“ Sie wusste, dass sie ihm oberflächlich erscheinen musste, konnte sich aber einfach nicht beherrschen: „Und außerdem will ich keine Fangzähne und spitze Ohren!“
„Nicht dass das irgendetwas daran ändern wird, wie du dich fühlst, aber zufällig liebe ich spitze Ohren.“
Sie warf ihm einen argwöhnischen Blick zu.
„Nein, ehrlich. Einem Mann der Mythenwelt zeigen spitze Ohren, dass es sich entweder um eine Fee oder eine Walküre handelt, und beide Spezies sind für ihre atemberaubenden Frauen bekannt.“
„Selbst wenn ich sie nicht so freakig finden würde, so hindern sie mich aber daran, mich unter die Menschen zu mischen.“
„Gar nicht wahr. Du wirst sie einfach mit deinen wunderhübschen Haaren überdecken. Ich habe schon gesehen, dass Walküren sich Zöpfe flechten, um die Ohren darunter zu verbergen, oder sie tragen Stirnbänder. Manche lassen sie ganz einfach unbedeckt und behaupten, sie seien Komparsen beim Film in voller Maske.“
Nïx
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