Verfuehrung in bester Gesellschaft
Angst.“
Er strich ihr die zerzausten Locken zurück. „Das ist es, was Tapferkeit ausmacht. Angst zu haben und trotzdem den Mut aufzubringen, das zu tun, was nötig ist. Und glaub mir, ich hatte ebenfalls Angst.“
Angst, sie zu verlieren. Angst, dass seine mutige, schöne kleine Frau nicht einmal die Chance bekommen würde, das Leben zu erkunden.
„Diese armen, armen Menschen.“ Sie barg ihr Gesicht an seiner Schulter und begann zu weinen, in tiefen Schluchzern, die unmittelbar sein Herz anrührten.
Rule hielt sie einfach nur fest.
Im Stillen dankte er Gott, dass es ihm gelungen war, sie zu retten.
9. KAPITEL
V iolet erinnerte sich weder an die Kutschfahrt zurück zum Haus noch daran, wie Rule sie nach oben in ihre Schlafstube getragen hatte. Sie erinnerte sich nur daran, wie er sie in der Kutsche auf dem Schoß gehalten, wie er ihr Haar gestreichelt und ihr immer wieder gesagt hatte, dass sie sich in Sicherheit befand.
Sie erinnerte sich, wie er sie angesehen hatte, an sein schönes rußverschmiertes Gesicht, seine versengte Abendgarderobe, an den Geruch von Rauch und den entschlossenen Ausdruck in seinen Augen, als er sie durch die Flammen geführt hatte.
Sie erinnerte sich, dass sie sich eine Zeit lang gefragt hatte, ob sie ihm in die Hölle gefolgt war oder ob er sie in Sicherheit brachte. In diesem Augenblick der Unsicherheit erinnerte sie sich daran, wie er in seinem Kontor ausgesehen hatte, so verantwortungsbewusst und zupackend. Sie hatte ihr Leben in seine Hände gelegt.
Und Rule hatte sie nicht im Stich gelassen.
Jetzt sah Violet zu ihm auf. Er stand im Salon neben einem Silbertablett mit einer Flasche Brandy und zwei kristallenen Gläsern, die der Butler hereingebracht hatte. Rule schenkte den Brandy ein. Er kam zu ihr an den Kamin und drückte ihr eines der Gläser in die zitternden Hände.
„Trink das. Es wird dich beruhigen.“
Violet tat, was er sagte. Sie ließ zu, dass die warme Flüssigkeit brennend durch ihre Kehle rann. Sie vertraute ihm jetzt, wie sie es vorher nicht getan hatte. Sie hatte nie zuvor Brandy getrunken. Ihr Vater hatte Whiskey gemocht. Er hatte ihr dann und wann einen Schluck zum Probieren gegeben, und sie hatte sich an den Geschmack gewöhnt.
„Trink den Rest aus.“ Er hielt ihr das Glas an die Lippen, und sie trank es leer. Dann entspannte sie sich allmählich.
Rule ließ sie einen Moment lang allein, ging zum Schrank und goss Wasser aus dem Krug in die Schüssel. Ehe Violet aufgebrochen war, hatte sie Mary für den Abend freigegeben, damit diese ihre Mutter besuchen konnte. Daran erinnerte sich Violet, als sie zusah, wie Rule ein sauberes Tuch in die Schüssel tauchte und dann wieder zu ihr kam. Sie fühlte die Nässe, als er behutsam ihr Gesicht und ihre Schultern säuberte, ehe er wieder an die Schüssel trat und sich selbst Gesicht und Hals wusch.
Er trug keinen Rock, denn der hing noch immer um ihre Schultern. Seine Krawatte war weg, und die Weste hatte er über einen Stuhl geworfen.
„Besser?“, fragte er, als er wieder bei ihr war.
Sie nickte, aber sie konnte nur an die Frau im Theater denken, wie die Flammen sich über deren Kleid und ihr Haar ausgebreitet hatten, und an deren schreckliche Schreie. Dann erinnerte sie sich daran, wie sie von Rule weggerissen wurde, wie sie gestolpert und gestürzt war, wie ein Mann auf sie gefallen war und dann noch einer, sodass sie auf den Teppich gepresst wurde und kaum noch atmen konnte.
„Kann ich … noch ein wenig davon haben?“ Sie hielt ihr leeres Glas hoch. Rule füllte es erneut und brachte es zu ihr zurück. Violets Hand zitterte, als sie noch einen Schluck trank und dann noch einen. Die wärmende Flüssigkeit beruhigte sie. Sie fühlte sich träge und warm und wünschte sich, mehr trinken zu können, um alles zu vergessen.
Als hätte er ihre Gedanken gelesen, schenkte Rule ihr noch ein wenig ein. „Ich weiß nicht. Ich fürchte, das war zu viel.“
Tränen traten ihr in die Augen und liefen über ihre Wangen. Sie fühlte sich so schwach. Was würde ihr Vater denken? Aber dann war Rule da, nahm das Glas, das sie leer getrunken hatte, setzte sich neben sie und zog sie in seine Arme.
„Es tut mir leid, dass ich dich dorthin mitgenommen habe. Wenn ich es rückgängig machen könnte, dann …“
„Es war nicht dein Fehler“, sagte sie unter Tränen und fühlte, wie er sie näher an sich zog. Sie lehnte sich an ihn, suchte Trost bei ihm und seinen Schutz und legte die Hände um seinen
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