Verführung pur
wünschte sich, sie könnte etwas gegen ihr albernes Verlangen tun, Brock auf der Stelle zu küssen.
Brock stellte seinen eigenen Becher auf einer freien Ecke des Tisches ab, der kartonbeladen in der Mitte des Raumes stand. “Tja, das bringen Kleinstädte so mit sich. Wenn man die Bedienung in dem Doughnut-Laden fragt, was Noelle Quentin normalerweise trinkt, kommt die Antwort wie aus der Pistole geschossen.”
Nachbarn konnten grausame Verräter sein. Noelle nippte an dem Kaffee und redete sich ein, dass ihr bloß von dem Getränk so seltsam heiß wurde. “Und woher wusstest du außerdem, wo du mich finden würdest?”
“Aha, du gibst also zu, dass du dich vor mir versteckst?”
“Ich gebe überhaupt nichts zu.” Selbstverständlich lief sie seit Tagen vor ihm davon. Das musste sie tun, denn in der Nähe dieses Mannes, der sie wie ein Magnet anzog, wurde sie regelmäßig schwach, und das ängstigte sie. Immerhin legte sie großen Wert darauf, in ihren Beziehungen stets die Oberhand zu behalten und eine sichere Distanz zu wahren.
“Ich frage mich lediglich, wie du darauf kommst, dass ich ausgerechnet am Wochenende, noch dazu vor Tau und Tag, hier sein würde, wo ich mich doch normalerweise nicht darum reiße, im Geschäft zu sein.”
Brock ging um den Tisch herum, und Noelles Herz schlug mit jedem seiner Schritte schneller. Warum hatte sie sich heute Morgen nicht weniger luftig gekleidet? Sie trug nur ein dünnes Trägertop, in dem sie sich plötzlich fast nackt fühlte. Am liebsten hätte sie die Arme vor der Brust verschränkt, um sich zu schützen, doch die Blöße gab sie sich nicht.
Er sah über ihre Schulter auf die Inventarliste und dann zu den Kartons.
“Mir scheint, als wärst du dauernd hier. Und das heute war ein Selbstgänger, denn ich war gerade an Deck und habe geangelt, als du mit dem Mofa vorgefahren bist.”
Er hatte recht: In einer Kleinstadt lebte man wie auf dem Präsentierteller. “Schläfst du eigentlich nie?”
“Nun, ich schätze, das ist einer der Vorzüge des Älterwerdens. Man braucht weniger Schlaf”, antwortete er und sah sie an.
Noelle war froh, dass sie in diesem Moment nicht getrunken hatte, da sie gewiss daran erstickt wäre. “Älter? Du kannst unmöglich älter sein als ich, also pass auf, was du sagst.”
“Ich bin zweiundvierzig, und ich möchte behaupten, dass es mir wie einem guten Wein geht, der mit den Jahren immer besser wird.”
Er nahm ihr die Inventarliste aus der Hand und trug ein paar Zahlen ein.
Der Himmel stehe ihr bei, wenn er tatsächlich noch besser werden sollte, als er im Moment schon war. In seiner Nähe waren bereits jetzt all ihre Sinne in Alarmstellung.
Sie versuchte sich abzulenken, indem sie auf die Liste sah.
“Manche Leute erkennen in fortgeschrittenem Alter klarer, was sie wollen, und sie verlieren die Scheu, es sich zu nehmen.”
Seine Bruce-Springsteen-Stimme ließen ihr die Nackenhaare zu Berge stehen, und sie verstand nicht gleich, was er ihr sagte. “Wie bitte?”
Dann begriff sie, was er meinte. Wollte er ihr etwa unterstellen, sie hätte Angst vor
ihm
?
Brock addierte die Zahlen, bevor er sie wieder ansah.
“Ich sagte, einer der Vorteile des Älterwerdens ist, dass
manche Leute
erkennen, was sie wollen, und keine Scheu mehr haben, es sich zu nehmen.” Er lehnte sich ein wenig vor, als wollte er seine Worte dadurch noch unterstreichen.
Dieser Mann war entschieden zu selbstsicher, und Noelle schäumte vor Wut über seine unglaubliche Arroganz.
“Du bildest dir doch hoffentlich nicht ein, dass ich dich will, Brock Chandler? Denn wenn es so wäre, hätte ich nicht die geringste Scheu, dich zu verführen und gleich hier und jetzt dafür zu sorgen, dass du deinen eigenen Namen vergisst.”
Das laute Ticken der zwanzig Jahre alten Wanduhr machte die Stille, die sich plötzlich im Raum ausbreitete, unerträglich. Und sie sah Brock deutlich an, dass er sich gerade ausmalte, wie die von ihr erwähnte Verführung aussehen könnte.
Noelles Lippen fühlten sich schlagartig furchtbar trocken an.
“So verlockend dein Angebot auch klingen mag, aber ich dachte eigentlich eher an die tolle Küstenimmobilie, die du gern hättest und dich trotzdem nicht zu kaufen traust. Obwohl ich zugeben muss, dass dein Vorschlag auch gewisse Reize hat.” Er rieb sich das unrasierte Kinn, als dachte er immer noch darüber nach, wie es wäre, sich von ihr verführen zu lassen.
Noelle wollte im Erdboden versinken.
Besser konnte es gar
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