Verfuehrung
Gerede, er suche Glück in der Liebe, oder hatte er versucht, ihr etwas zu sagen? Das gab ihr zu denken.
Sie griff nach dem Brief, entfaltete ihn und las die kurze Nachricht.
Meine liebste Gemahlin:
Ich habe gestern aus verläßlicher Quelle erfahren, daß mein Glück in meinen eigenen Händen liegt. Aber das ist nicht die ganze Wahrheit. Ob er es nun will oder nicht, das Glück und die Ehre eines Mannes liegen häufig in den Händen seiner Frau. Ich bin überzeugt, daß in meinem Fall beides in besten Händen ist. Mir fehlt das Talent für Sonette oder Gedichte, aber ich möchte, daß Ihr dieses Armband gelegentlich tragt als Zeichen meiner Achtung. Und, daß Ihr, wenn Ihr Gelegenheit habt, das andere kleine Geschenk zu betrachten, an mich denkt.
Julians kühne Initialen waren quer über die Seite gekritzelt. Sophy faltete den Brief langsam wieder zusammen und betrachtete das glit-zernde Diamantarmband. Achtung war ja nicht direkt Liebe, aber dazu gehörte doch wohl etwas Zuneigung.
Erinnerungen an Julians Leidenschaft und Kraft, die sie gestern nacht in der Dunkelheit umfangen hatten, brandeten über sie. Sie durfte sich aber nicht von der Leidenschaft, die er in ihr erweckte, in die Irre führen lassen. Leidenschaft war nicht gleich Liebe, wie Amelia zu ihrem Schaden hatte feststellen müssen.
Aber sie hatte mehr als Leidenschaft von Julian, wenn diesem Brief zu glauben war, sagte sich Sophy. Sie brachte es einfach nicht fertig, den kleinen Funken Hoffnung, der in ihr loderte, zu ersticken. Achtung beinhaltet Respekt, beschloß sie. Julian war wohl wütend über den Vorfall gestern morgen, aber vielleicht wollte er damit sagen, daß er sie doch irgendwie respektierte.
Sie stieg aus dem Bett und verstaute das Diamantarmband neben Amelias schwarzem Ring in ihrem Schmuckkästchen. Sie mußte diese Ehe realistisch sehen, sagte sich Sophy streng. Leidenschaft und Achtung waren ja ganz schön, aber eben nicht genug. Julian hatte ihr gestern nacht klargemacht, daß er zwar wollte, daß sie ihm ihre Liebe anvertraute, aber er hatte auch deutlich gezeigt, daß er nie einer Frau sein eigenes Herz anvertrauen würde.
Als sie das Schmuckkästchen schloß, fiel ihr das andere Paket auf dem Bett ein. Voller Neugier ging sie hin, hob das schwere Geschenk auf und wog es in der Hand. Es fühlte sich an wie ein Buch, dachte sie, und der Gedanke erregte sie wesentlich mehr als das Armband. Sie öffnete hastig die braune Papierverpackung.
Sie strahlte vor Freude, als sie den Namen des Autoren auf dem ledergebundenen Folianten las. Julian hatte ihr eine prachtvolle Ausgabe von Nicholas Culpepers berühmter Kräuterkunde: English Physician geschenkt. Sie konnte es kaum erwarten, das Buch Old Bess zu zeigen. Es war ein umfassender Führer für alle hilfreichen Kräuter und Pflanzen, die in England heimisch waren.
Sophy flog durchs Zimmer, um nach Mary zu läuten. Als das Mädchen ein paar Minuten später an der Tür klopfte, blieb ihr der Mund offen, als sie sah, daß ihre Herrin bereits halb angezogen war.
»Madame, was soll denn die Hast? Laßt Euch doch helfen. Oh, Vorsicht, Madame, sonst zerreißt Ihr die Nähte.« Mary nahm ihrer Herrin das Kleid ab. »Ist irgend etwas passiert?«
»Nein, nein, Mary, es ist nichts passiert. Ist Seine Lordschaft noch im Haus?« Sophy bückte sich und streifte ihre weichen Lederslipper über.
»Ja, Madame, ich glaube, er ist in der Bibliothek. Soll ich ihn informieren lassen, daß Ihr ihn zu sehen wünscht?«
»Ich werd’s ihm selbst sagen. Wunderbar, das reicht, Mary. Du kannst jetzt gehen.«
Mary sah sie entsetzt an. »Unmöglich. Ich kann Euch nicht aus dem Zimmer lassen, wenn Eure Haare so runterhängen. Das wär nicht recht. Wenn Ihr nur eine Minute stillhaltet, steck ich sie Euch hoch.«
Sophy fügte sich und murmelte ungeduldig vor sich hin, während Mary ihr Haar mit zwei Silberkämmen und einigen strategisch plazierten Haarnadeln aufsteckte. Als die letzte Locke verstaut war, sprang sie von ihrem Toilettentisch auf, packte ihr kostbares Kräuterbuch und rannte zur Tür hinaus und über den Gang die Treppe hinunter.
Sie blieb ganz außer Atem vor der Bibliothekstür stehen, klopfte einmal und platzte dann einfach ins Zimmer.
» Julian. Danke. Ich danke dir so sehr. Du bist so gut. Ich weiß nicht, wie ich dir zeigen kann, wie dankbar ich dir bin. Das ist das schönste Geschenk, das ich je bekommen habe. Du bist der großzügigste Ehemann in ganz England. Nein, der
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