Vergangene Narben
Unterlippe herum. Zum Reden bringen, genau das war das Stichwort, über dass ich mir seit zehn Minuten den Kopf zerbrach. Ich könnte ihm zum Reden bringen – vielleicht. Ich hatte es schon lange nicht mehr getan, und ich war mir auch absolut nicht sicher, ob ich mich da einmischen sollte.
„Verdammt!“, fluchte Javan, und warf sein Handy wütend in den freien Sessel, mit den goldenen Zahnstocherbeinchen. „Caine, jetzt sprich endlich mit uns!“
Es ging nicht. Ich war mir nicht mal sicher, ob er uns überhaupt hörte. Er war völlig lethargisch.
„Ähm“, machte ich, bevor ich noch einmal darüber nachdenken konnte. „Vielleich kann ich dafür sorgen, dass er den Mund aufmacht.“ Ich sah nervös zu dem apathischen Mann, und dann schnell auf den Boden. Die Blicke der Anwesenden spürte ich trotzdem. „Aber … egal, vergesst es einfach.“ Gott, war das peinlich! Warum nur hatte ich meine Klappe aufgemacht?
„Nein“, sagte Javan da. „Die Idee ist gut.“ Er sah von mir zu Caine, und wieder zurück. „Kannst du denn Kontrolle üben? Ich meine, weil du ein Dimidius bist.“
„Äh … manchmal. Also nicht immer.“ Nervös bohrte ich meinen Zeh in den Teppich. „Ich hab es schon lange nicht mehr getan, weil es meistens nicht funktioniert.“
„Meistens? Aber nicht immer.“
„Nicht immer“, bestätigte ich zögernd.
Javan wiegte seinen Kopf hin und her, als wöge er seine Möglichkeiten ab. „Einen Versuch ist es auf jeden Fall wert, komm.“ Er streckte mir die Hand entgegen, eine Aufforderung ihm zu ihm kommen, der ich nur zögernd folgte, bis ich vor dem teilnahmslosen Mann stand.
Ich warf noch einen nervösen Blick in die Runde, und erst als Cio mir zuversichtlich zunickte, kniete ich mich vor Caine hin.
Augenblicklich wurde der Blutgeruch, der von ihm ausging, stärker. Doch er war alt, geronnen, unappetitlich, sodass mein Bluthunger sich einmal zurück hielt. Gott sei Dank. Jetzt in einen Rausch zu verfallen, war wohl das letzte was ich brauchen konnte. „Caine?“, sagte ich leise, und legte meine Hand auf seine. Sie war kalt, und zitterte leicht. Er reagierte nicht, starrte nur weiter vor sich ins Leere.
Meine Brille nahm ich vorsorglich von der Nase, und legte sie neben mich auf den Boden – die würde ich nicht brauchen –, bevor ich meine freie Hand an seine Wange legte, und sein Gesicht leicht anhob, bis ich Augenkontakt hatte. Dabei kam ich mir äußerst seltsam vor. Einen Fremden so zu berühren. Auch dass er es sich einfach so gefallen ließ, war sicher nicht normal. Genau wie seine geröteten Augen mit dem gebrochenen Blick darin.
Ich rief mir das in Erinnerung, was mein Vater mich schon als kleines Mädchen gelehrt hatte.
Konzentriere dich, schärfe deinen Blick. Glaube an das, was du erreichen willst. Du musst es wirklich wollen, tief in dir, sonst funktioniert es nicht.
Und genau da hatte schon immer das Problem gelegen, bei diesem Wollen. Ich wollte es, aber ich wollte es nicht genug, hatte Papa mir einmal erklärt. Einfach weil es mir wiederstrebte anderen meinen Willen aufzuzwingen. Doch jetzt wollte ich es nicht nur, ich musste, weil es wichtig war. In diesen Unruhigen Zeiten war es sehr bedeutend zu erfahren, warum eine halbtote Werwölfin in dieses Hotel getragen wurde, in dem sich auch meine Erzeugerin aufhielt, der zurzeit meistgesuchtesten Lykanthropen der Welt. „Caine“, wiederholte ich, und obwohl sein Blick durch mich durchzugehen schien, waren seine Augen auf mich gerichtet. „Komm zu dir, und antworte auf meine Fragen“, befahl ich mit strenger Stimme, die nichts anders als Gehorsam zuließ. Ich spürte die Macht in mir brennen, den Willen, und versuchte mich von den anderen nicht ablenken zu lassen. „Hast du das verstanden?“
Der gebrochene Blick in seinen Augen wurde ein wenig glasig. Er versuchte zu nicken, konnte es aber nicht, weil mein Blick ihn gefangen hielt.
Vor Schreck, dass es wirklich funktionierte, hätte ich den Augenkontakt fast abgebrochen. Ich zwang mich still zu verharren. „Antworte mir mit Worten“, befahl ich ihm.
„Ja, ich habe verstanden“, antwortete er wie ein Roboter mit völlig tonloser Stimme.
Okay, jetzt sprach er endlich. So weit so gut. „Dann sag mir, warum hast du deine Schwester her gebracht?“
„Ich wusste nicht, wo ich sonst hingehen soll.“
Hm, das war wohl die falsche Frage gewesen. „Warum? Was ist mit deinem Rudel? Was ist passiert? Warum geht dort niemand ans Telefon?“
„Weil niemand
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