Vergangene Schatten
das wirklich du?« Er hatte es offensichtlich nicht eilig, sich von der Stelle zu rühren, und stützte sich auf die Ellbogen, während der Kosename, den er ihr vor vielen Jahren gegeben hatte, Erinnerungen in ihr heraufbeschwor, die ihr alles andere als willkommen waren. Während sie immer noch bewegungsunfähig unter ihm lag, betrachtete er sie eingehend. Es grämte sie, dass sie durch eine Verkettung von unglücklichen Umständen nicht gerade blendend aussah; das regnerische Wetter, die späte Stunde, die lange Fahrt, die sie gerade hinter sich hatte, die latente Depression, die an ihr nagte, nachdem ihr ganzes sorgfältig geplantes Leben zusammengefallen war wie ein Kartenhaus - all das machte einen Menschen nicht unbedingt attraktiver. Außerdem war sie überhaupt nicht geschminkt, so dass er ihr Gesicht wohl genau so sah, wie er sich daran erinnerte: die gleichen schmucklosen blauen Augen, die gleiche sommersprossige und mit Sicherheit auch glänzende Stupsnase, der gleiche etwas zu breite Mund. Ihr Gesicht war so wie früher eher rund als oval, und ihre vernachlässigten Augenbrauen waren im Begriff, über der Nase zusammenzuwachsen. Dass sie sich ihm so völlig ungeschminkt zeigen musste, machte ihre Gefühle ihm gegenüber um nichts freundlicher; im Gegenteil, es steigerte ihren ohnehin schon beträchtlichen Zorn auf ihn nur noch mehr. Als sich ihre Blicke wieder trafen, machte sie ein finsteres Gesicht. Dafür sah er sie mit einem breiten Lächeln an.
»Baby, du hast dich verändert. Und ich meine nicht nur deine Kurven und die blonden Haare. Früher warst du mal nett, weißt du.«
Dass er sie neckte, machte sie nur noch wütender. Er mochte vielleicht das letzte Kapitel in der Geschichte ihrer Bekanntschaft schon wieder vergessen haben, doch sie erinnerte sich noch ganz genau.
»Früher, da war ich so manches - zum Beispiel dumm. Ziemlich dumm sogar. Und jetzt mach, dass du ...«
Sie sprach den Satz nicht zu Ende - denn plötzlich sauste eine schwere Bratpfanne aus dem Dunkeln herab und ging krachend auf seinem Hinterkopf nieder.
5
»Verdammt«, brüllte Matt und hielt sich den Kopf, während er benommen ins Gras sank.
»Lauf, Carly!«, rief Sandra, die mit schwingender Bratpfanne in der Dunkelheit herumhüpfte, als hätte sie glühende Kohlen in den Schuhen. »Rühr dich nicht von der Stelle, sonst schlag ich noch einmal zu«, sagte sie drohend zu Matt, als dieser aufzustehen versuchte. »Du wirst schon sehen - ich schlag noch mal zu!«
»Nein, Sandra!«, rief Carly, während Matt, die Arme um den Kopf gelegt, sich trotz der Drohung aufsetzte. Im nächsten Augenblick ging die Pfanne erneut über ihm nieder, und er konnte gerade noch rechtzeitig ausweichen. Die Pfanne sauste knapp an seiner Schulter vorbei. »Er ist ein Freund von mir«, fügte Carly hinzu.
Obwohl »Freund« nicht ganz das richtige Wort war, um die Rolle zu beschreiben, die Matt in ihrem Leben gespielt hatte. Und es traf ganz gewiss nicht die Gefühle, die sie im Augenblick für ihn hegte. Das einsame kleine Mädchen, das den drei Jahre älteren Jungen wie einen Helden verehrt hatte, gehörte der Vergangenheit an. Sie war heute eine erwachsene Frau, die irgendwann in einem schmerzlichen Prozess hatte erkennen müssen, dass der schwarzhaarige Junge, den sie für so wundervoll gehalten hatte, auch nur einer von vielen nichtswürdigen Schuften war.
»Was?« Sandra sah sie zögernd an, jederzeit bereit, erneut zuzuschlagen.
Matt blickte kurz zu ihr auf und riss ihr die Pfanne aus der Hand.
»Oh!«, stieß Sandra hervor und wich zurück.
»Ist schon okay«, sagte Carly und rappelte sich auf die Beine. Sie fühlte sich noch ein wenig wackelig nach dem Kampf von vorhin, außerdem war ihre gesamte Rückseite von den Schultern bis zu den Knien feucht - doch als sie zu Matt hinunterblickte, der auf dem Boden saß, die Bratpfanne neben sich, während er mit seinen langen Fingern vorsichtig die Hinterseite seines Kopfes untersuchte, begannen ihre Mundwinkel in einem unwillkürlichen Lächeln zu zucken. »Er ist dumm, aber harmlos. Sandra, das ist Matt Converse. Matt, Sandra Kaminski.«
»Ah, freut mich«, sagte Sandra und sah Matt etwas verwirrt an.
Matt tastete immer noch seinen Hinterkopf ab, wo sich bereits eine ordentliche Beule abzuzeichnen begann, und blickte auf. Carlys Lächeln wurde noch breiter, als sie sein Gesicht sah. Sie stellte fest, dass sie ihm diese Beule von Herzen gönnte.
»Ich wünschte, ich könnte das Gleiche
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