Vergangene Schatten
den Weg versperrt.« Sie verspürte Gewissensbisse, weil sie die arme Katze völlig im Stich gelassen hatte. Das Ergebnis dieser Vernachlässigung war, dass sich Hugo nun einem Raubtier gegenübersah, das offenbar vorhatte, ihn zum Nachtmahl zu verspeisen. In dem verzweifelten Bemühen, die Katze zu retten, bevor sie angegriffen wurde, ließ sie sich auf alle viere nieder und kroch unter die Veranda.
»Weg da!«, rief sie und fuchtelte drohend mit der Taschenlampe. Hugo starrte sie angsterfüllt an.
»Lass den Unsinn«, sagte Matt, fasste sie um die Hüfte und zog sie unter der Veranda hervor. Er hielt sie vorsichtshalber weiter am Bund ihrer Jeans fest - für den Fall, dass sie es noch einmal versuchen könnte -, nahm ihr die Taschenlampe aus der Hand und richtete sie in den dunklen Raum unter der Veranda.
»Sei vorsichtig«, warnte Sandra. »Was immer es ist - es könnte die Tollwut haben.«
»Es ist doch nur ein Hund«, sagte Matt erleichtert. »Komm hierher, mein Junge.«
Während Matt eine Reihe von Lockrufen hervorstieß, die sich für Carly ziemlich albern anhörten, betrachtete sie das Tier, soweit sie es erkennen konnte, noch einmal eingehend. Sie kam zu dem Schluss, dass Matt Recht hatte: Es war wohl tatsächlich ein Hund. Ein kleiner schwarzer Hund mit Ohren wie ein Fuchs. Ein Hund war immerhin besser als ein wildes Tier, dachte sie, wenngleich das für Hugo bestimmt keinen großen Unterschied machte; er hasste nämlich Hunde.
»Hierher, mein Junge«, rieüMatt erneut. Diesmal sah sich der Hund zu ihm um. Seine dunklen, leuchtenden Augen erschienen Carly so gnadenlos wie die eines Wolfs. Er mochte nicht viel größer sein als Hugo und war mit Sicherheit viel magerer, doch sie war überzeugt, dass das drahtige Tier kräftiger war, als es aussah. Es war offensichtlich ein streunender oder gar ein wilder Hund. Sie hatte Geschichten von Wildhunden gehört, die gelegentlich in Rudeln durch Screven County streiften. Sie töteten Hühner, Kälber und manchmal sogar ausgewachsene Kühe. Eines stand jedenfalls fest: Dieser Hund hier stellte für ihre verhätschelte Katze mit Sicherheit eine Gefahr dar.
Matt hingegen schien der Ansicht zu sein, dass er harmlos war. Bevor sie ihn über mögliche Gefahren aufklären konnte, begann er wieder mit seinen lächerlichen Lockrufen. Der Hund sah ihn an und stieß ein scharfes Kläffen hervor.
Dieses Geräusch war offensichtlich mehr, als Hugo ertragen konnte. Mit gesträubtem Fell und hoch aufgerichtetem Schwanz sprang er hoch und sauste, so schnell er konnte, auf Carly zu. Der überraschte Hund begriff erst, dass seine Beute ihm zu entwischen drohte, als Hugo bereits an ihm vorüber war. Er wirbelte herum und nahm laut bellend die Verfolgung auf.
Carly war geistesgegenwärtig genug, um rasch zur Seite zu kriechen. Matt, der zugegebenermaßen Hugo und seine Eigenheiten nicht kannte und deshalb nicht wissen konnte, in welcher Gefahr er schwebte, blieb, wo er war. Er hockte immer noch vor der Veranda, als Hugo über ihn hinwegbrauste wie ein Güterzug über eine Brücke. Der Hund stürmte mit wildem Gekläff hinter dem Kater her.
Matt schrie auf und riss die Hände hoch, doch es war schon zu spät. Er verlor das Gleichgewicht und landete rücklings im feuchten Gras. Matt stieß eine Serie von derben Flüchen hervor, die Carly jedoch nur teilweise mitbekam; nachdem sie sich mit einem kurzen Blick vergewissert hatte, dass er nicht verletzt war, rannte sie, so schnell sie konnte, hinter ihrer Katze her.
»Hugo!«, rief sie, als die beiden Tiere - das eine kläffend, das andere miauend - über die Wiese stürmten. Sie wusste, dass Hugo möglicherweise meilenweit lief, wenn er, so wie jetzt, von einem Hund verfolgt wurde. Selbst wenn es ihm irgendwie gelingen sollte, nicht in Stücke gerissen zu werden, so würde er doch keine Ahnung haben, wie er je wieder nach Hause finden sollte. Und nachdem er sein ganzes bisheriges Leben in den vier Wänden einer Luxuswohnung verbracht hatte, war er in keiner Weise mit den Gefahren vertraut, die in der Welt draußen lauerten. Wenn man dann noch bedachte, dass er fremd hier in der Gegend war und außerdem wahrscheinlich eine Riesenangst vor dem Hund hatte, dann musste einem klar sein, dass die Geschichte ein schlimmes Ende zu nehmen drohte.
Sie hatte schon so viel im Leben verloren, dachte Carly. Ihr ganzes sorgfältig geplantes Leben war in sich zusammengebrochen. Hugo war so ziemlich alles, was ihr noch geblieben war, und sie
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